Rehabilitation (Stuttg) 2012; 51(S 01): S1-S2
DOI: 10.1055/s-0032-1329956
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Teilhabe und Teilhabeforschung

Participation and Participation Research
R. Buschmann-Steinhage
,
W. Jäckel
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
12. Dezember 2012 (online)

„Teilhabe“ ist – jedenfalls in Deutschland – zu einem überaus wichtigen Begriff für die Rehabilitation und die Rehabilitationsforschung geworden. Die gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ist nach § 1 SGB IX zentrales Ziel der Rehabilitation, der Leistungen zur Teilhabe. Dazu gehören die Leistungen zur medizinischen Rehabilitation. Sie werden gemäß § 26 Abs. 1 SGB IX erbracht, um (1) Behinderungen einschließlich chronischer Krankheiten abzuwenden, zu beseitigen, zu mindern, auszugleichen, eine Verschlimmerung zu verhüten oder (2) Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit und Pflegebedürftigkeit zu vermeiden, zu überwinden, zu mindern, eine Verschlimmerung zu verhüten sowie den vorzeitigen Bezug von laufenden Sozialleistungen zu vermeiden oder laufende Sozialleistungen zu mindern. Diese Ziele verfolgen – das bestimmt § 27 SGB IX – aber auch die Leistungen zur Krankenbehandlung, die im SGB V, also im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung geregelt sind.

Vor diesem Hintergrund ist es nur folgerichtig, die Teilhabe zum Gegenstand von Forschung zu machen, sodass neben die Rehabilitationsforschung nun auch die Teilhabeforschung tritt. Mindestens 2 Diskussionsstränge dazu haben sich – zunächst weitgehend unabhängig voneinander – herausgebildet. In der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation (DVfR) diskutierte am Rande der Mitgliederversammlung 2009 erstmals eine Arbeitsgruppe über Teilhabeforschung. Bereits seit vielen Jahren bestand in der DVfR ein Arbeitsausschuss Interdisziplinäre Reha-Forschung, der sich unter der Leitung von PD Dr. Michael Schuntermann insbesondere mit der International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps (ICIDH) bzw. International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) beschäftigt hatte. Später stand unter der Leitung von Prof. Karl Wegscheider die Betroffenenbeteiligung an der Reha-Forschung im Mittelpunkt der Arbeit. Bald wurde klar, dass dieses und andere Themen sowohl für die DVfR als auch für die Deutsche Gesellschaft für Rehabilitationswissenschaften (DGRW) wichtig sind, und so entschieden sich die Vorstände beider Verbände, einen gemeinsamen Forschungsausschuss einzurichten, den Dr. Rolf Buschmann-Steinhage und Prof. Karl Wegscheider leiten. In einer Arbeitsgruppe dieses Forschungsausschusses entstand das Diskussionspapier „Teilhabeforschung“, das die Vorstände von DVfR und DGRW verabschiedet haben und das in diesem Heft abgedruckt ist.

Während dieser Diskussionsstrang von den Akteuren her eher von der medizinischen und der beruflichen Rehabilitation geprägt war, nahm ein anderer Diskussionszusammenhang seinen Ausgang im Umfeld der Behindertenhilfe, konkret von den 5 Fachverbänden für Menschen mit Behinderung, die auf einer Tagung am 10. Oktober 2011 in Berlin 10 Thesen zur Teilhabeforschung vorstellten und mit Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Selbsthilfe und Praxis diskutierten (siehe Beitrag von Hinz in diesem Heft). Die 5 Verbände sind: Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie e. V., Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung, Verband für anthroposophische Heilpädagogik, Sozialtherapie und soziale Arbeit e. V., Bundesverband evangelische Behindertenhilfe e. V. und Bundesverband für körper- und mehrfachbehinderte Menschen e. V.

Es liegt nahe, beide Diskussionsstränge, die in ihrer Zielsetzung viele Gemeinsamkeiten aufweisen, zu verbinden. Erste Gespräche dazu haben bereits stattgefunden. Ausgelotet werden soll, welche Personen und Verbände – aus Wissenschaft, Selbsthilfe und Praxis – für ein „Aktionsbündnis Teilhabeforschung“ gewonnen werden können, um der Forschung auf diesem Gebiet Anstöße und Anschub zu geben.

In diesem Heft wird „Teilhabeforschung“ im Englischen als „participation research“ bezeichnet. Das sollte nicht verwechselt werden mit „participatory research“ oder „participatory action research“ – womit die (aktive) Beteiligung Betroffener an der Forschung gemeint ist, nicht nur an der zu Rehabilitation und Teilhabe. Und genau damit beschäftigen sich weitere Beiträge dieses Heftes.

Die Teilhabe in einem ganz speziellen Sinn, nämlich die Beteiligung von Betroffenen an der Forschung, insbesondere an der Forschung zu Rehabilitation und Teilhabe, war bereits Gegenstand einer Tagung „Forschen und beforscht werden“ in Rheinsberg im Februar 2008 [1], in der zum ersten Mal in dieser Form Betroffene sowie Expertinnen und Experten aus Forschung und Praxis zum Trialog zusammentrafen, um über ihre Erwartungen an die Rehabilitationsforschung und Möglichkeiten der Beteiligung zu sprechen. Fortgesetzt wurden diese Diskussionen bei einer zweiten Tagung „Beteiligung von Betroffenen in der Rehabilitationsforschung“ in Rheinsberg im Oktober 2011, über die in diesem Heft von Reinsberg et al. berichtet wird. Beide Tagungen rich­tete die DVfR über ihren Forschungsausschuss zusammen mit der Fürst-­Donnersmarck-Stiftung aus, im Jahr 2011 dann auch in Zusammenarbeit mit der DGRW. Im Unterschied zur ersten Veranstaltung in Rheinsberg sollte 2011 konkreter diskutiert werden, wie die Zusammenarbeit zwischen Forschern und Betroffenen im Einzelnen gestaltet werden kann und sollte.

Im Anschluss an die Arbeitsergebnisse der Tagung im Jahr 2011 und unter Berücksichtigung eigener und in der Literatur berichteter Erfahrungen beschreiben Kirschning et al. in diesem Heft den Hintergrund partizipativer Rehabilitationsforschung, skizzieren Forschungstraditionen, an die die Rehabilitationsforschung anknüpfen kann, und stellen ein Stufenmodell vor, das zur Ausgestaltung und Dokumentation der Beteiligung Betroffener geeignet ist. Ergänzend geben sie konkrete Praxisempfehlungen, machen aber auch deutlich, welche offenen Fragen noch der Beantwortung harren, wenn die Beteiligung Betroffener an der (Rehabilitations-)Forschung allgemein Realität werden soll.

Wie jedes neue Forschungsfeld steht auch die Teilhabeforschung vor großen konzeptionellen und methodischen Herausforderungen. Im Beitrag von Farin in diesem Heft geht es (noch) nicht um Lösungen für diese Probleme. Dargestellt wird stattdessen, wie komplex die Fragen sind, die bei der Durchführung von Projekten zur Teilhabeforschung beantwortet werden müssen. Solche Studien haben genau und explizit anzugeben, welche Aspekte von Teilhabe vor welchem theoretischen und konzeptionellen Hintergrund jeweils analysiert werden sollen. Gute Teilhabeforschung muss oft interdisziplinär stattfinden; das setzt entsprechende Einstellungen und Kompetenzen der beteiligten Forscherinnen und Forscher voraus. Und schließlich braucht Teilhabeforschung Methoden und Theorien zur integrierten Berücksichtigung von sowohl Personen- als auch Umweltmerkmalen, denn Behinderung und Teilhabe liegen nicht nur in der Person (und auch nicht nur in der Umwelt), sondern entstehen bzw. realisieren sich erst in deren Interaktion.

Auch wenn Fragen der Rehabilitations- und Teilhabeforschung bislang überwiegend im nationalen Rahmen diskutiert werden – Behinderung und damit Einschränkungen der Teilhabe gibt es überall. Das verdeutlicht auch der World Report on Disability, der 2011 gemeinsam von Weltgesundheitsorganisation (WHO) und Weltbank der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Rund 15% der Weltbevölkerung leben danach mit einer Form von Behinderung. Meyer und Gutenbrunner beleuchten in ihrem Beitrag in diesem Heft die Bedeutung des World Reports für die Teilhabe- und Rehabilitationsforschung, gehen aber auch auf dessen Empfehlungen zur Verbesserung der Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen ein.

„Teilhabe“ ist seit dem SGB IX der Leitbegriff des deutschen Rehabilitationsrechts; die Rehabilitationsleistungen heißen nun „Leistungen zur Teilhabe“. In der Diskussion um die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK), die Deutschland 2009 ratifiziert hat, ist stattdessen „Inklusion“ in der Regel der zentrale Begriff. Zu den beiden Begriffen gehören Bedeutungsfelder, die sich deutlich überlappen, ohne deshalb schon deckungsgleich zu sein. Von einer „inklusiven“ Gesellschaft kann man sprechen, von einer „teilhabenden“ weniger. Zukünftige Diskussionen werden zeigen, wie sich Forschung zu Teilhabe und Forschung zu Inklusion zueinander verhalten, sich überschneiden oder ergänzen.

 
  • Literatur

  • 1 Schliehe F. „Forschen und beforscht werden – Betroffene, Forscher und Praktiker im Bereich Rehabilitation im Austausch“. Bericht über einen Workshop vom 28.–29.2.2008 in Rheinsberg. Rehabilitation 2008; 47: 254-258