Gesundheitswesen 2012; 74(12): 842
DOI: 10.1055/s-0032-1327604
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René Sand (1877–1953) – Weltbürger der internationalen Sozialen Arbeit

Contributor(s):
Thomas Gaertner
1   Mainz
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Publication Date:
19 December 2012 (online)

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[1] „Noch weniger lässt sich das menschliche Leben in einen starren Kode einschließen. Nach den Bestandteilen der Ursachen und nicht nach vorgefertigten Regeln muss man jedes Problem, jede Situation beurteilen. Misstrauen Sie Definitionen und Klassifikationen. Sie sind bequem, notwendig, aber relativ und provisorisch… Kehren wir also immer zu den Tatsachen zurück, zur Realität, und lassen wir uns nicht durch Konstruktionen des Geistes irreführen.“

Vor mehr als 60 Jahren formulierte René Sand diese Sentenz in seinem Aufsatz „L’initation aux problèmes de l’homme“ – eine weitsichtig anmutende Mahnung angesichts der mehr als 1 200 diagnosebezogenen, um einen Pflegekomplexmaßnahmen-Score ergänzten Fallgruppen im deutschen DRG-System, der von Experten beanstandeten Reform des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) oder des holistischen Entwurfs zur Normierung der personbezogenen Kontextfaktoren der ICF. Der Pionier internationaler sozialer Arbeit sowie Sozialmediziner mit luxemburgischen und französischen Wurzeln hatte zeitlebens seinen Lebensmittelpunkt in Brüssel. Dort nahm er auch sein Medizinstudium auf. Den schon in jungen Jahren an astronomischen und im Studium zudem an maritimen Fragestellungen Interessierten führten Studien- und Forschungsaufenthalte sowie später auch berufliche Tätigkeiten unter anderem nach Frankreich, Österreich, Deutschland, England, Chile und in die USA. Als Vorsitzender der Association internationale des hôpitaux bereiste er dann zwischen den Weltkriegen mehrfach Europa, Asien sowie Nord- und Südamerika. Im Jahr 1941 wurde er durch die deutsche Besatzungsmacht seiner universitären Aufgaben in Brüssel enthoben, im September 1944 von der Gestapo gefangen genommen und inhaftiert.

Sein Lebensweg ist gekennzeichnet durch die Verflechtung eines tätigen und wissenschaftlichen Engagements in sozialer Medizin, sozialer Arbeit und sozialer Reformpolitik. Einige der wesentlichen Stationen seines Berufslebens waren: 1910–1920 Leitung der Abteilung „Anatomie pathologique“ an der Freien Universität Brüssel, 1919 Gründung der „Association Belge Médecine Sociale“, 1921–1927 Generalsekretär der „Liga der Rotkreuzgesellschaften“, 1928 Generalsekretär der „Pre­mière Conference internationale du service social“, 1937–1945 Generalsekretär im belgischen Ministerium für öffentliche Gesundheit, 1945 Ernennung zum Professor für Geschichte der Medizin und Sozialmedizin an der Freien Universität Brüssel. Die umfangreiche Reihe von René Sands Schriften zur sozialen Medizin beginnt im Jahr 1914 und schließt 1952 mit dem 655-seitigen Werk „The Advance to Social Medicine“. Programmatisch ist darin eine Nähe zu Virchows sozialmedizinischen Leitgedanken nicht zu verkennen: „Ignorance and poverty form a two-fold barrier“, „medicine in its various forms has always been, and still is, largely of social character“, „Social medicine is the final flowering of the preventive und curative art“.

Die vorliegende Veröffentlichung ist zum einen eine biografische Annäherung an René Sand sowie eine Skizze seines Beitrags zur überstaatlichen Institutionalisierung sozialer Arbeit in Form der heute noch existierenden Wohlfahrtsorganisationen International Council of Social Welfare (ICSW) und International Federation of Social Workers (IFSW). Zum anderen geht es um eine Darstellung der für die soziale Arbeit und ihre internationalen Organisationen relevanten Anteile der Geschichte der Liga der Rotkreuzgesellschaften, in der René Sand national wie international eine entscheidende Rolle gespielt hat.

Mit ihrer Dissertationsschrift macht die Diplompädagogin Kerstin Eilers mit René Sand auf einen außergewöhnlichen Sozialmediziner aufmerksam. Gründe seines geringen Bekanntheitsgrads und der marginalen Rezeption seiner Leistungen, gerade im Nachkriegsdeutschland und damit anders als beispielsweise im südamerikanischen Raum, sieht sie abschließend möglicherweise in der überwiegend nordamerikanischen Orientierung sozialer Arbeit überhaupt, in dem durch den Nationalsozialismus diskreditierten Ansehen der Sozialmedizin, das eine breit angelegte Reflexion des Fachs behinderte, sowie ein dem Pragmatismus und einer nicht erfolgten historischen Aufarbeitung geschuldetes beschleunigtes Vergessen der beachtlichen internationalen Traditionen sozialer Arbeit, für die René Sand als „Weltbürger“ einstand.

Die vorliegende Veröffentlichung, die ein ausführliches Publikationsverzeichnis René Sands enthält, könnte als Einladung verstanden werden, sich mit einem auf Objektivität und Neu­tralität bedachten Sozialmediziner auseinanderzusetzen, dessen Einsichten – beispielsweise auch bezüglich der immer wieder eingeforderten Weiterentwicklung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs – nichts an Aktualität eingebüßt haben und für die Sozialmedizin eine Einengung auf die Funktionalität einer Versicherungsmedizin ausschließen: So schrieb er im Jahr 1937:

„Die Perfektionierung der Methoden ist nicht weniger wichtig: es erfordert Unendliches an Verständnis, Takt, Flexibilität und Ausdauer, um die Persönlichkeit des anderen zu durchdringen, sie zu respektieren und sie zugleich wieder aufzurichten und zu entwickeln; man braucht eine konstante Wachsamkeit, um bei denjenigen, denen man hilft, gleichzeitig die physische und geistige Gesundheit, die familiäre Harmonie, die wirtschaftliche Unabhängigkeit, die berufliche Zukunft zu entwickeln; man muss alles vermeiden, was abhängig macht, was passiv hält, was die Existenz einschränkt, was die Persönlichkeit einengt. Die soziale Arbeit ist letztlich ein Werk der Befreiung.“