Sprache · Stimme · Gehör 2012; 36(02): 83
DOI: 10.1055/s-0032-1322476
Interview
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Die Lippen-, Kiefer- und Gaumenspalte aus pädagogischer Sicht

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Publication Date:
20 July 2012 (online)

In der Tat wissen wir aus aktuellen Studien, dass Kognition und Spracherwerb von einer Lippen-, Kiefer- und Gaumenspaltbildung beeinflußt werden können. Damit verbunden sollen auch die Inzidenzen für Lern- und Leseschwierigkeiten zunehmen. Insbesondere gibt es Anzeichen dafür, dass erst mit zunehmendem Alter bei Kindern mit Lippen-, Kiefer- und Gaumenspalten Schwächen in der expressiven Sprachkompetenz auffällig werden können. Zwar besuchen inzwischen die meisten Kinder mit Lippen-, Kiefer- und Gaumenspalten eine Regelschule, dennoch sollte das Angebot von spezialisierten Förderschulen im Einzelfall in Betracht gezogen werden. Daher freue ich mich besonders, dass ich Frau Gabriele Knolle als Förderschullehrerin für das folgende Interview gewinnen konnte.

? Frau Knolle, kommt es noch häufig vor, dass die Begriffe Hasenscharte und Wolfsrachen verwendet werden? Was sagen Sie dazu?

Die Begriffe "Hasenscharte" oder "Wolfsrachen" sind meines Erachtens aus dem Sprachgebrauch verschwunden. Nur ältere Menschen verwenden diese noch, ähnlich wie bei der Bezeichnung "Mongoloismus". Hier hat sich im Sprachgebrauch ein sehr positiver Wandel vollzogen.

? Was müssen Sie aus pädagogischer Sicht bei Kindern mit LKG-Spaltfehlbildungen besonders beachten?

Aus hörgeschädigtenpädagogischer Sicht ist das Augenmerk darauf zu richten, eine negative Hörbilanz zu vermeiden. Neben der aufmerksamen Begleitung der regelmäßigen Kontrolle des aktuellen Hörstatus gehören dazu gezielte Angebote zum Training der Hörwahrnehmung. Darüber hinaus ist das Einwirken auf das familiäre Umfeld des Kindes ein wichtiger Ansatz. Es ist von großer Bedeutung, dass die Eltern / Kind-Kommunikation auf vorsprachlicher und sprachlicher Ebene in jeder Beziehung erhalten ist und weiter wächst.

? Früher wurde in der Regel zweizeitig operiert, heute eher einzeitig. Macht sich das Ihrer Erfahrung nach bemerkbar und wenn ja, wie?

Aufgrund der bei uns nur selten vorstelligen Patienten können wir aus unserer Sicht hierzu keine Aussagen machen.
In jedem Fall ist aber die einmalige OP-Situation mit ihren notwendigen Folgen für ein Kind und die Familie auf psychosozialer Ebene wesentlich besser zu verarbeiten.

? Wie häufig sehen Sie assoziierte Schluckstörungen und wie kann man damit als Sonderpädagogin umgehen?

Hier ist durch die Spezialisierung der Logopädinnen eine gute Zusammenarbeit die Basis für das Gelingen besonderer Fördermaßnahmen. Insbesondere, wenn ein Kind teilstationär oder stationär in unserer Einrichtung (Kindergarten / Internat) aufgenommen wird, sind interdisziplinäre Fördergespräche unabdingbar.

? Welchen Anteil nimmt bei Ihnen die Elternberatung ein? Worauf weisen Sie besonders hin?

Die Ausführungen zur zweiten Frage machen bereits deutlich, dass der systemische Ansatz in der Begleitung des familiären Umfeldes einen wichtigen Handlungsansatz darstellt. Die Familien bedürfen nicht selten der Unterstützung, um die Beziehung zu ihrem Kind zu erhalten und den für die Entwicklung notwendigen Dialog mit dem Kind führen zu können. Auch benötigen die Eltern unter Umständen Beratung und Hilfen, um sich in dem interdisziplinären Kontext sicher zu bewegen. Es ist bei dem hier bestehenden Kontext stets zu beachten, psychosozialen Folgen möglichst präventiv zu begegnen.

Das Interview führte Prof. Dr. med. Dr. med. dent. Martin Rücker, Hannover.

Zur Person
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Gabriele Knolle, Jahrgang 1954, Ausbildung als Förderschullehrerin mit den Fachrichtungen Hör- und Sprachbehinderten-, Verhaltens- und Lernbehindertenpädagogik, als Transaktionsanalytikerin (CTA) und Montessori-Pädagogin. Sie ist Abteilungsleiterin des Bereichs Pädagogische Audiologie, Frühförderung und Wohnen am Landesbildungszentrum für Hörgeschädigte in Hildesheim.