Gesundheitswesen 2012; 74 - A120
DOI: 10.1055/s-0032-1322106

Entwicklung von Gesundheitsvorstellungen und -konzepten von sozial benachteiligten Kindern im Vorschulalter

E Sterdt 1, R Stöcker 2, S Liersch 1, M Urban 3, ML Dierks 1, R Werning 2, U Walter 1
  • 1Medizinische Hochschule Hannover
  • 2Leibniz Universität Hannover
  • 3Universität Bielefeld

Hintergrund: Gesundheitsrelevantes Verhalten stellt einen Bestandteil des Lebensstils dar, dessen Ausbildung über Lernen, Gewohnheitsbildung und Prozesse des sozialen Vergleichs entsteht. Je früher Kindern ein gesundheitsförderliches Verhalten vermittelt wird, desto wirksamer werden sie in ihrer gesundheitsbezogenen Entwicklung gefördert. Das vom Niedersächsischen Institut für frühkindliche Bildung und Entwicklung geförderte Forschungsprojekt „Gesundheitsbildung und -förderung im Elementarbereich“ evaluiert die gesundheitspädagogischen Konzepte in Kindergärten (Schwerpunkt Ernährung und Bewegung) sowie deren Umsetzung im Alltag. In der vertiefenden Projektphase werden die Gesundheitsvorstellungen und -konzepte von sozial benachteiligten Kindern mit und ohne Migrationshintergrund analysiert. Gleichzeitig werden die entsprechenden Vorstellungen der Eltern und ErzieherInnen als die wichtigsten kindlichen Bezugspersonen erforscht.

Methoden: Auf Basis der Ergebnisse einer Bestandserhebung in allen Kindergärten im Großraum Hannover (Vollerhebung: N=557, Responserate: 47%) wurden sieben Kindergärten – vier Kindergärten mit sehr differenziertem und drei Kindergärten mit gering ausgeprägtem Gesundheitskonzept – für vertiefende Untersuchungen ausgewählt. Mit 18 Kindern (davon acht Kinder mit türkischem Migrationshintergrund und zehn Kinder ohne Migrationshintergrund) im Alter von fünf bis sechs Jahren aus sozial benachteiligten Familien wurden symbolische Puppeninterviews geführt. Den Kindern wurden offene, altersgerechte Fragen gestellt. Sie wurden gebeten, Bilder von Lebensmitteln in gesund und ungesund zu sortieren und ihre Entscheidung zu begründen. Um die Ergebnisse in die Kontexte von Familie und Kindergarten einordnen zu können, wurden Eltern und ErzieherInnen mittels episodischer Interviews befragt. Die Auswertung erfolgte anhand einer Synthese aus thematischem und offenem Kodieren.

Ergebnisse: Die Kinder haben teilweise Schwierigkeiten, die Zuordnung der Lebensmittel zu begründen. Lebensmittel, die zu den Geschmacksvorlieben der Kinder gehören, werden von ihnen oft als gesund bezeichnet, dies gilt für Kinder mit und ohne Migrationshintergrund. Beim Vergleich der Aussagen der Kinder nach ihrem Migrationsstatus zeigt sich, dass die Begründungen der Kinder ohne Migrationshintergrund differenzierter sind als die Begründungen der Kinder mit Migrationshintergrund. So gingen Kinder ohne Migrationshintergrund bei den Erklärungen auf die Bestandteile einzelner Lebensmittel (z.B. Obst, Gemüse, Zucker, Fett, Milch) und deren gesundheitsbezogenen Auswirkungen ein. Die Unterschiede zwischen den Kindern können jedoch nicht unmittelbar auf deren Migrationsstatus zurückgeführt werden. Bis auf ein Kind besuchen alle Kinder mit Migrationshintergrund Kindergärten mit einem gering ausgeprägten Gesundheitskonzept. Die differenzierten Antworten werden mehrheitlich von den Kindern aus Kindergärten mit einem sehr gut ausgearbeiteten Gesundheitskonzept gegeben. Die Interviews mit den ErzieherInnen belegen, dass in Kindergärten mit einem gering ausgeprägten Gesundheitskonzept die Sprachförderung häufig eine höhere Priorität hat als ernährungs- und bewegungsbezogene Aktivitäten. Die Unterschiede zwischen den Kindern können zudem auf elternbezogene Determinanten sowie die Verbalisierungsfähigkeiten der Kinder zurückgeführt werden. Als Maßnahmen, um gesund zu bleiben, werden von nahezu allen Kindern konkrete Verhaltensweisen genannt, die sich an den Verhaltensvorgaben von Erwachsenen orientieren, z.B. „Medizin nehmen“ und „Obst und Gemüse essen“.

Schlussfolgerung: Bereits Vorschulkinder haben Vorstellungen über eine gesunde und ungesunde Ernährung entwickelt und sind in der Lage, sich mit gesundheitsbezogenen Informationen auseinanderzusetzen. Die Kinder haben ein umfangreiches, aber nicht immer von ihnen verbalisiertes, begründbares Gesundheitswissen. Es scheint zudem noch kein Gesamtkonzept über Gesundheit zu bestehen. Gesundheitsbildungsprogramme im Vorschulbereich sollten die Determinanten, die die Gesundheitsvorstellungen der Kinder beeinflussen, sowie die kognitive Entwicklung und Vorkenntnisse der Kinder berücksichtigen.