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DOI: 10.1055/s-0032-1322048
Gestaltungschancen im armen Alter. Die Perspektive der Grundbefähigungen nach Nussbaum
Einleitung: Der klassischen Wohlstandsmessung der Staaten anhand des Bruttoinlandsprodukts wurde von Amartya Sen und Martha Nussbaum das Konzept der Verwirklichungschancen (Capabilities Approach, CA) gegenüber gestellt, das in der Lage ist, qualitative Aspekte ‚guten Lebens‘ als Chancen bzw. Befähigungen abzubilden und damit gesellschaftliche Ungleichheit zwischen und innerhalb von Ländern zu erfassen. Martha Nussbaum hat dem relativ abstrakt formulierten Konzept von Sen eine Liste von ‚central capabilities‘ (Grundbefähigungen) hinzugefügt, die sie als Grundlage für die Ermöglichung eines ‚guten Lebens‘, verstanden als Entfaltung (‚human flourishing‘) einer selbstbestimmten Lebenspraxis, definiert und deren Voraussetzungen deshalb aus gerechtigkeitstheoretischer Perspektive von den öffentlichen Institutionen einer (jeden) Gesellschaft zu schaffen seien. Erst wenn diese Voraussetzungen zur Verfügung stehen, haben die Einzelnen die praktische Freiheit, über verschiedene Optionen, deren Realisierung und Ausgestaltung, zu entscheiden. Insofern bezieht das Konzept der Grundbefähigungen die materiellen, sozialen und politischen Voraussetzungen der Reali-sierung mit ein. Dabei liegt der Fokus auf der Ermöglichung, nicht auf der Verpflichtung einer bestimmten Umsetzung der Grundbefähigungen. Der Beitrag wendet das Konzept der Grundbefähigungen auf eine Lebenssituation an, in der die Wahlmöglichkeiten der Einzelnen – und damit die Teilhabe an Entscheidungen über ihr eigenes Leben – fast regelhaft eingeschränkt sind: die des Alterns in Deutschland unter den Bedingungen sozialer Benachteiligung, mit besonderer Berücksichtigung der Situation von Hilfe- und Pflegebedürftigkeit und der Lebensbedingungen in benachteiligten Wohnquartieren.
Daten/Methodik: Der Beitrag unternimmt den Versuch, das Konzept der Grundbefähigungen für diese Lebenssituation qualitativ zu operationalisieren: Anhand eigener und externer Erkenntnisse wird ausbuchstabiert, was die Grundbefähigungen in solchen Lebenssituationen bedeuten und beinhalten können, welche Chancen und Einschränkungen erkennbar und belegbar sind – und wie dabei Bedingungen, Chancen und Grenzen eigener Gestaltung sichtbar werden. Eigene Daten und Erkenntnisse stammen aus dem Projekt ‚Neighbourhood‘ (im Forschungsverbund AMA, 2008–2011, gefördert vom BMBF), in dem die Autonomiechancen hilfe- und pflegebedürftiger zuhause lebender Älterer in benachteiligten Wohnquartieren in Berlin und Brandenburg mit qualitativen Methoden untersucht wurden. Dabei wurden sowohl die Perspektiven der Älteren selbst wie auch die relevanter Akteure der gesundheitlichen und pflegerischen Versorgung, der offenen Altenhilfe und der Zivilgesellschaft erhoben. Hierauf wird im Beitrag rekurriert. Im Vortrag werden die Grundbefähigungen, bei denen der Bezug zu eigenen Gestaltungschancen und Entscheidungsteilhabe besonders naheliegt, differenzierter ausgearbeitet, während die anderen lediglich gestreift werden. Mit der Ausarbeitung wurde auch erprobt, ob sich das Konzept der Grundbefähigungen für die Untersuchung der Lebenssituationen benachteiligter Älterer eignet.
Ergebnisse: Anhand der Perspektive der Grundbefähigungen werden die Einschränkungen, die das Alltagsleben sozial benachteiligter Älterer und ihre Gestaltungschancen insbesondere in der Situation von Pflegebedürftigkeit charakterisieren, sowohl als substanziell wie als gesellschaftlich vorstrukturiert erkennbar. Charakteristika benachteiligter Wohnquartiere, wie auch Strukturmerkmale der Sozialgesetzgebung wirken zusammen mit biografisch akkumulierten Einschränkungen der Entwicklung von Kompetenz und Selbstwirksamkeit der Einzelnen und prägen Lebenssituationen mit geringen verbliebenen Entscheidungsspielräumen.
Schlussfolgerung: Das Konzept der Grundbefähigungen erweist sich als hilfreich, um Denkgewohnheiten über scheinbar normale Einschränkungen im Alter aufzubrechen und auch die entlang des sozioökonomischen Status und der Milieuzugehörigkeit unterschiedlichen Gestaltungschancen benachteiligter Älterer in den Blick zu nehmen. Daraus können Forderungen an Politik und Praxis entwickelt und legitimiert werden.
Literatur:
Kümpers, S. 2012. Partizipation hilfebedürftiger und benachteiligter Älterer – die Perspektive der ‚Grundbefähigungen‘ nach Martha Nussbaum. In: Rosenbrock, R. & Hartung, S. (eds.) Handbuch Partizipation und Gesundheit. Bern: Huber. 197–211
Nussbaum M (2003). Frauen und Arbeit- Der Fähigkeitenansatz. zfwu 4/1, 8–31