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DOI: 10.1055/s-0032-1312772
Editorial zum Beitrag „Challenges for the German Health Care System“
Publication History
Publication Date:
01 June 2012 (online)
Die Leistungsfähigkeit des Deutschen Gesundheitswesens ist unbestritten. Das deutsche Gesundheitssystem steht durch den demografischen Wandel allerdings auch vor wichtigen Veränderungen. Dieser Wandel sollte aktiv gestaltet werden, um bestmögliche Ergebnisse zu erreichen. Es ist leicht einsehbar, dass bei einer Reduzierung der werktätigen gesunden Bevölkerung (die auch nur einen reduzierten Beitrag leisten) und Zunahme von Rentnern mit höheren krankheitsbedingten Kosten das bisherige Finanzierungskonzept angepasst werden muss. Die Entwicklung eines neuen oder doch nur eines adaptierten Finanzierungssystems ist kein Selbstläufer, sondern bedarf der Einsicht, Motivation, Diskussion, Planung, Handlung und Kontrolle. Es bleibt bisher offen, nach welchen medizinischen, juristischen, ökonomischen, aber auch ethischen Gesichtspunkten unsere aktuellen Ressourcen gerecht verteilt werden sollen. Eine notwendige gesellschaftspolitische Auseinandersetzung betrifft somit nicht nur Vertreter des Deutschen Gesundheitssystems, sondern auch die Justiz und Kirchen sowie letztendlich jeden Arzt und Gastroenterologen und eigenverantwortlichen Bürger unseres Landes. Politische und wahltaktische Überlegungen sowie ein unzureichender gesellschaftlicher Diskurs haben dazu geführt, dass bestimmte Themen und wichtige Ausgabenbereiche gänzlich ausgeklammert sind. Zu nennen sind die Finanzierung, der Leistungskatalog, Priorisierung, aber auch Überangebote und unzureichende Qualitätskontrollen. Diese Diskussion ist eine der großen gesellschaftspolitischen Aufgaben der nächsten Jahre, um die Ausgestaltung des Leistungskatalogs und dessen Finanzierung gerecht und fair zu gestalten.
Es besteht die Notwendigkeit, aber vielleicht noch kein Konsens, dass die Finanzierung der Sozialversicherungen grundlegender Reformen bedarf. Die Verbesserung der Finanzierung könnte durch Ausdehnung der Versicherungspflicht auf alle Bürger und Einkommensarten in Form der sog. Bürgerversicherung erfolgen; dies hätte zur Folge, dass Privatversicherungen als Alternative zur GKV abgeschafft und Privatversicherte faktisch enteignet werden würden. Des Weiteren würde dieser Ansatz lediglich den Zeitpunkt des Kollapses weiter nach hinten verschieben und die Abnahme der arbeitstätigen Bevölkerung nicht ausreichend berücksichtigen. Alternativ erscheint die sog. „Kopfpauschale“ mit steuerfinanziertem Sozialausgleich und morbiditätsorientierter Risikoadaptation ein vielversprechender und besserer Ansatz zu sein, um eine zukünftige Finanzierung planbar zu machen. Die Unsicherheit der Krankenhausfinanzierung wird auch durch die aktuellen milliardenschweren Überschüsse der Krankenkassen deutlich.
In einem lesenswerten Beitrag im Feuilleton der FAZ wurde von Reiner Klingholz am 24.4.2012 formuliert „Viel zu wenig, viel zu spät: Die Demographiestrategie der Bundesregierung ist ein Trauerspiel. So vergeuden wir die Jahre, die bleiben, bevor die Gesellschaft zu alt und zu krank wird.“ Die Generationsproblematik wird ausführlich in unserem Übersichtsreferat diskutiert.
Eigenverantwortliches gesundheitsförderndes Handeln muss gestärkt werden, ohne das Prinzip der Solidarität zu verletzen. Es ist offensichtlich, dass präventive und die Gesundheit fördernde Maßnahmen effektiver sind, als eingetretene Risikokonstellationen zu beseitigen und Krankheiten zu behandeln. Es stellt sich die Frage, inwieweit eigens verschuldeter Bewegungsmangel und ernährungsbedingte Adipositas, Nikotin- und Alkoholkonsum, „Workalkoholismus“ sowie anderes Risikoverhalten von der Gesellschaft solidarisch getragen werden müssen. Zu bedenken sind allerdings Schwierigkeiten, objektives Risikoverhalten im gesellschaftlichen Konsens zu definieren und Kontrollmechanismen zu schaffen.
In den vergangenen 30 Jahren wurde mit unterschiedlichem Erfolg insbesondere die Ausgabenseite politisch beeinflusst und gesteuert. Zentrale Elemente stellen hierbei die Krankenhausfinanzierung, die Organisation des ambulanten Krankenversorgungssystems, pharmazeutische Regulierungsmaßnahmen und die Weiterentwicklung von Gesundheitstechnologien dar. Die meisten Sparmaßnahmen haben sich zumindest teilweise als weniger effektiv als geplant herausgestellt und regelhaft den Verwaltungsaufwand erhöht, bspw. die 10-Euro-Pauschale. Auf Kostenreduzierungsmaßnahmen haben die Akteure des beeinflussten Systems mit Kompensationsmechanismen reagiert und somit die erwünschten Effekte zumindest in Teilen zunichte gemacht.
Transparenz und Eigenbeteiligungen von Patienten zur Stärkung von Kostenbewusstsein müssen gefördert werden. Der Normalbürger kennt die Kosten nicht, die er verursacht („Wird ja alles von der Kasse bezahlt“). Versicherungen müssen die Kosten transparent machen. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass die dann erhaltene Transparenz auch sinnvolle Information enthält. Aktuelle Gebührenordnungen repräsentieren eine undurchsichtige und nicht gerechtfertigte Mischkalkulation, die für den verantwortlichen Bürger nicht hilfreich sind. Ein Beispiel aus gastroenterologischer Sicht ist die ambulant durchgeführte Ösophagogastroduodenoskopie (ÖGD), für die ein vorgesehenes Honorar von 82,60 Euro nicht kostendeckend ist. Eine nach den Leitlinien zur Sedierung und hygienekontrollierte und somit qualitätsgesicherte ÖGD mit Text- und Bilddokumentation erfordert inklusive der notwendigen Einmalmaterialien ca. 110 Euro Sachkosten; adäquate Investitionskosten für die Gerätschaften und notwendige Dokumentationssysteme bleiben hierbei unberücksichtigt. Ein Arzthonorar, bezogen auf eine geschätzte Untersuchungsdauer von ca. 20 min, würde eine Vergütung von 150 Euro ergeben. Hieraus resultiert eine Differenz von zumindest 70 Euro zum errechneten Honorar aus der aktuell gültigen Gebührenordnung. Ähnliches gilt für die Abrechnung der Sonografie, für die qualitätsregulierende Maßnahmen und eine davon gesteuerte Entlohnung gefordert werden kann. Erst wenn die Gebührenordnung eine nachvollziehbare und reproduzierbare Kostenkalkulation der Einzelleistungen ermöglicht und nicht auf undurchsichtige und unpräzise Ausgleichsphänomene basiert, sind diese Daten für die Kontrolle durch den Patienten auch sinnvoll.
Obwohl es in Deutschland inzwischen eine Vielzahl an gesetzlichen Vorgaben, Konzepten und Instrumenten zur Qualitätsförderung gibt, gilt Deutschland noch als „Entwicklungsland“ des Qualitätsmanagements, da sich das politische Handeln auf fragmentierte Maßnahmen zur Kostenreduktion beschränkt(e) und im DRG-System qualitätssichernde Maßnahmen nicht ausreichend enthalten sind. Den politisch Handelnden blieb verborgen, dass qualitätssichernde Maßnahmen nicht durch Wunschdenken und somit kostenfrei zu erhalten sind. Es besteht aber auch die Gefahr, dass privilegierte Akteure (bspw. ernannte oder selbsternannte „Zentren“) den Begriff „Qualitätssicherung“ missbrauchen, um damit eigene Interessen durchzusetzen.
Die Etablierung eines gesundheitspolitischen begründeten Qualitätsmanagements und einer Qualitätskultur erfordert die Definition ergebnisorientierter und transparenter Qualitätsziele und Qualitätsindikatoren sowie entsprechende Ausbildungskonzepte mit adäquaten Anreizen zur Einhaltung. Die Bekämpfung nosokomialer Infektionen ist hierbei eine der wichtigsten Herausforderungen der nächsten Jahre.
Die Zertifizierung von Organzentren (Brustzentrum, Darmzentrum, Prostatazentrum, andere) durch die Deutsche Krebsgesellschaft und die daraus resultierende Diskussion um Mindestmengen beispielsweise in der Brust-, Rektum- und Pankreaschirurgie sind Grundlage einer intensivierten Diskussion über notwendige ergebnisorientierte Qualität. Statistisch häufig angewandte Mortalitätsdaten reflektieren lediglich einen begrenzten Ausschnitt des Gesundheitszustands der Bevölkerung am Ende des Lebens, sind aber zuverlässiger als Morbiditätsdaten. Ergebnisorientierte und Pharma-unabhängige Forschung sowie evidenzbasierte Einschätzungen sind notwendige Voraussetzungen für eine nutzenorientierte Gesundheitspolitik.
Die Krankenhauskosten sind ein wesentlicher Faktor der Gesundheitskosten. Die 4 Säulen der Krankenhausfinanzierung waren im Zeitalter vor DRG der Basispflegesatz, die Abteilungspflegesätze, Sonderentgelte sowie Fallpauschalen, die zusammen jedoch einer regressiven Festlegung („Deckelung“) des Krankenhausbudgets unterlagen. In der Vergangenheit hatten die Erstattungsprinzipien nach der Anzahl der versorgten Patienten und deren Liegedauer sowie föderalistische Entscheidungsstrukturen zu einer Überversorgung mit Betten und letztendlich zu einem Anstieg der Kosten geführt. Das System der Krankenhausfinanzierung wurde durch die Einführung eines weitgehend ökonomisch gesteuerten DRG-Systems revolutioniert. Es ist offensichtlich, dass eine ökonomische und budgetierte Betrachtungsweise einen vielversprechenden Ansatz zur Kostenstabilisierung darstellt. Eine überzeugende Bestandsaufnahme unter Berücksichtigung von Kosten, Nutzen und Qualität wurde bislang allerdings noch nicht aufgezeigt. In einem rein ökonomisch gesteuerten System ist allerdings auch zu befürchten, dass menschliche Zuwendung verloren gehen kann.
Die Vernetzung der vorgehaltenen teuren und oft bisher nicht optimal genutzten Krankenhaustechnologie mit dem ambulanten Sektor bspw. durch Medizinische Versorgungszentren (MVZ) ist eine weitere Herausforderung der Zukunft. Der Druck ist hoch, auch hier das Potenzial der doppelt (im ambulanten und stationären Bereich) etablierten Facharztschiene besser zu nutzen.
Die seit 1972 bestehende duale Krankenhausfinanzierung (Krankenhausfinanzierungsgesetzes [KHG]) hat mittlerweile zu einem Investitionsstau von vielen Milliarden Euro geführt und sich somit in den letzten Jahren nicht mehr bewährt. Es bleibt offen, ob heutzutage noch die geforderten Kriterien einer (ausreichenden) leistungsfähigen, eigenverantwortlich gesteuerten wirtschaftlichen Sicherung der Krankenhäuser mit bedarfsgerechter Versorgung der Bevölkerung gegeben sind. Da letztendlich kein Rechtsanspruch besteht, gibt es auch keinen ausreichenden Regulationsmechanismus. Es erscheint zumindest ökonomisch sinnvoll, die Trennung der Investitionskosten, die durch die Bundesländer aufgebracht werden, und die pflegesatzfähigen Kosten, die von den Versicherten bzw. deren Krankenkassen zu tragen sind, wieder zusammenzuführen, um mehr Transparenz zu ermöglichen. Hierbei würden allerdings „Spielzeuge“ regionalpolitischer Entscheidungsträger verloren gehen.
Die Einführung und Fortentwicklung von Health Information Technology (HIT) sind entscheidende Faktoren für die Vernetzung des stationären und ambulanten Sektors, auch wenn das deutsche E-card-Projekt aus Datenschutzgründen und am Widerstand von beteiligten Berufsgruppen bisher gescheitert ist. Es bleibt dem Autor unverständlich, dass relativ geringfügige Datenschutzgründe einen besseren Informationsaustausch verhindern.
In einer im gleichen Heft erscheinenden Übersichtsarbeit wird das Deutsche Gesundheitssystem beschrieben. Ausgewählte Kriterien beinhalten die Finanzierung, kostenstabilisierende sowie qualitätsfördernde Maßnahmen, die jeweils für den Krankenhausbereich und ambulanten Sektor dargelegt werden. Im Besonderen werden auch das Konzept des „Generational Accouting“ und das daraus entwickelte „Freiburger Modell“ vorgestellt, beide erläutern die zugrunde liegende Problematik und skizzieren mögliche Lösungsansätze.