Psychiatr Prax 2012; 39(01): 48
DOI: 10.1055/s-0031-1301136
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Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

"…der Wirklichkeit abgewandt" – Eine Wissenschaftshistorische Darstellung des Autismus

Rezensent(en):
Ekkehardt Kumbier
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Publikationsdatum:
13. Januar 2012 (online)

 
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"Loslösung von der Wirklichkeit…" – so beschrieb Eugen Bleuler vor 100 Jahren das gestörte Verhältnis des Schizophrenen zu seiner Umwelt und führte in diesem Zusammenhang den Terminus Autismus ein. Für den Kinderpsychiater Klaus-Jürgen Neumärker Anlass genug, auf historische Spurensuche zu gehen. Und so weist schon der Titel seines Buches "… der Wirklichkeit abgewandt" auf die Problematik der veränderten Interaktion mit den Mitmenschen hin.

Neumärker hat sich immer wieder mit diesem Thema beschäftigt. Nun fügt er sein Wissen in einer Monografie zur Wissenschafts- und Kulturgeschichte des Autismus zusammen. Er verweist zu Recht darauf, dass die autistischen Störungen in den letzten Jahren nicht nur zunehmend wissenschaftliches, sondern auch öffentliches Interesse gefunden haben. Insofern ist das vorliegende Buch für das heutige Verständnis von Autismus sehr zu begrüßen, denn die Sichtweise der Betroffenen weicht durchaus von der von Forschern, Psychologen und Ärzten ab. Das kann kaum verwundern. Seit Bleulers Erstbeschreibung führten ein wechselndes Begriffsverständnis und die Ausweitung auf verschiedene Bereiche des täglichen Lebens zu definitorischen Schwierigkeiten und Verständigungsproblemen. Einen Einblick in den ideengeschichtlichen Kontext ist zum besseren Verständnis des Störungsbildes Autismus also durchaus hilfreich.

Zunächst führt uns Neumärker allgemein in die Psychiatriegeschichte und das Problem der Bestimmung psychopathologischer Begriffe und Klassifikation psychischer Störungen ein. Nachdem Bleulers Autismusbegriff und dessen Schizophreniekonzept näher erklärt werden, zeigt er verschiedene Stationen auf demWeg zum heutigen Verständnis von Autismus auf.

So finden Karl Kahlbaums Vorstellungen zur Katatonie und zum Negativismus, Ewald Heckers Hebephrenie mit Bezug auf Karl Leonhards autistischer Hebephrenie ebenso Berücksichtigung wie Emil Kraepelins Systematik psychischer Erkrankungen. Der Leser erhält interessante Einblicke in die bis heute anhaltende Suche nach einer Ordnung psychischer Erkrankungen.

Danachwird der lange Zeit diskutierte Zusammenhang zwischen autistischen und schizophrenen Erkrankungen thematisiert. Hier fokussiert Neumärker auf das Konzept der Schizophrenie im Kindesalter von Jakob Lutz sowie auf Hans Aspergers Beschreibung der "Autistischen Psychopathen". Zudem wird die Weiterentwicklung der Ansichten zum Autismus nach dem Zweiten Weltkrieg aufgezeigt, wobei wir quasi nebenbei erfahren, wie sich die Kinderpsychiatrie zu einem eigenständigen Fachgebiet etabliert hat. Begriffe wie frühkindlicher Autismus (Kanner), Asperger-Syndrom, atypischer Autismus und Autismus-Spektrum werden verständlich dargestellt und sachkundig in die Entwicklung des Konzeptes der sogenannten Autismus-Spektrum-Störungen eingeordnet. Die zum Teil erhebliche phänomenologische Überlappung von Katatonie und Autismus, die in der klinischen Beurteilung, aber auch in der Forschung lange Zeit wenig berücksichtigt wurde, ist ein Thema, das dem Leonhardschüler Neumärker besonders am Herzen liegt. Hingegen werden einige psychiatrisch-psychologische Konzepte wie das des depressiven Autismus nicht oder nur ansatzweise berücksichtigt, was für das übergreifende Verständnis wünschenswert gewesen wäre. Die zum Teil ausführliche Darstellung der Lebensgeschichten einzelner Protagonisten und ihrem Wirken vor dem Hintergrund der jeweiligen Zeit ist prinzipiell zu begrüßen, lässt den Lesefluss aber stellenweise ins Stocken geraten. Auf die Schilderung der andernorts mehrfach beschriebenen wissenschaftlichen Karriere Kraepelins hätte beispielsweise verzichtet werden können, ohne dass der Erkenntnisgewinn des Buches dadurch geschmälert worden wäre. Hingegen ist die fundierte Darstellung des Lebenswegs von Leo Kanner, den Neumärker anhand von Originaldokumenten und der unveröffentlichten Autobiografie aufgearbeitet hat, besonders hervorzuheben. Hier wünscht sich der psychiatriehistorisch interessierte Leser mehr über diese Quellen zu erfahren, die in früheren Veröffentlichungen des Autors aufgeführt sind und die nun im Buch leider fehlen. Ebenso erschweren – dies gilt für den gesamten Text – häufig fehlende Quellenangaben bei Zitaten die Vertiefung in die Thematik.

Schließlich werden Kanners und Aspergers Arbeiten und ihre Erklärungsansätze einschließlich ihrer Rezeptionsgeschichte besprochen, die für unsere heutige Sichtweise den Grundstein gelegt haben.

Im letzten Teil des Buches erweitern klinische und neurowissenschaftliche Erkenntnisse die historische Darstellung und stellen den aktuellen Bezug her.

Schlagwörter wie "High-functioning Autism", "theory of mind", Spiegelneurone, Empathie und soziales Gehirn werden vor dem Hintergrund von gegenwärtigen Forschungsergebnissen eingeordnet.

Insgesamt gelingt es Neumärker mit der Ideengeschichte des Autismus, die in der deutschsprachigen Forschungslandschaft bisher nur vereinzelt aufgegriffen wurde und geradezu nach einer monografischen Darstellung verlangte, eine Lücke zu schließen. Die Stärke des Buches liegt in der wissenschaftshistorisch kenntnisreichen Darstellung des Themas aus der Sicht eines klinisch Erfahrenen. Das Anliegen des Autors, stellenweise möglichst viele Informationen darzubieten, überfordert jedoch den Leser gelegentlich und ist mit der Gefahr verbunden, den Bezug zum eigentlichen Thema zu verlieren.

Dennoch: Die Lektüre des Buches kann durchaus einem breiten Leserkreis empfohlen werden, Betroffenen und deren Angehörigen ebenso wie den im wissenschaftlichen und klinischen Bereich Tätigen. Das ausführliche Literaturverzeichnis verweist den interessierten Leser auf weiterführende Arbeiten und ein Personenregister ermöglicht die gezielte Suche.

Ekkehardt Kumbier, Rostock
E-Mail: ekkehardt.kumbier@uni-rostock.de