Sprache · Stimme · Gehör 2012; 36(01): 9-10
DOI: 10.1055/s-0031-1299722
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Mediennutzung und Spracherwerb

Media Usage and Language Acquisition
U. Ritterfeld
,
S. Niebuhr-Siebert
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Publication Date:
19 March 2012 (online)

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Prof. Dr. Ute Ritterfeld
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Dr. Sandra Niebuhr-Siebert

Bilderbücher: Verrohung der Jugend!

Lesen: weltabgewandte Zeitverschwendung für altjüngferliche Damen.

Comics: simplifizierender Schund!

Simsen: eine unzulässige Verkürzung deutschen Schriftsprachguts?

.....

Die Liste des sogenannten Media bashings lässt sich historisch wunderbar rekonstruieren: Die Einführung eines jeden neuen Mediums spaltet die Menschen in early adopters und Kritiker, die dadurch die abendländische Kultur bedroht sehen. Die Kritik bezog sich also nicht nur auf die heute (noch) umstrittenen interaktiven, digitalen Formate, sondern hatte auch schon mal das Bücherlesen im Visier, das heute als Kulturhandlung schlechthin gilt. Mittlerweile scheint unangefochten zu gelten: Lesen bildet, Lesen fördert und muss gefördert werden. Gleichzeitig gibt es heute erhebliche Vorbehalte gegenüber den elektronischen Medien, denen beispielsweise vorgeworfen wird, die Nutzer zu verdummen oder zur Vereinsamung zu führen. Wieso das in der Regel einsame Geschäft des Lesens nicht zur Vereinsamung führe, die Nutzung elektronischer Medien hingegen schon, ein anspruchsloser Text mehr bilde als ein anspruchsvolles Fernsehprogramm, sei einmal dahingestellt. In jedem Fall sind solche Bewertungen Ausdruck von unzulässigen Vereinfachungen, bei denen Medienformate und Medieninhalte, die Nutzung und die Wirkung von Medien in einen Topf geschmissen werden.

Solche Pauschalisierungen sind nicht erkenntnisfördernd, sondern wirken im besten Fall als Strategien einer konservativ motivierten Einstellungsbewahrung. Interessanterweise ist media bashing in Deutschland besonders ausgeprägt. Vorbehalte gegenüber Medien werden deutlich, wenn die kompetente Nutzung elektronischer Medien sich hier deutlich langsamer entwickelt als in anderen Industrienationen oder die Ausstattung mit Rechnern und Internet in deutschen Schulen hinterherhinkt. Interessant ist diese Beobachtung, weil Deutschland eigentlich als ein Land der technischen Innovation, etwa im Maschinen- oder Autobau, gilt. Was also macht uns zu Meistern technischer Entwicklung, die wir im Medienformat mit Argwohn betrachten?

Die medienvermittelte Erfahrung wird offenbar als unecht betrachtet. Als Nachfolger eines romantischen kulturphilosophischen Erbes sind wir geneigt, das Unechte, das Vermittelte und Indirekte zu verdammen – wir wollen das Echte, das Unverstellte, das Ursprüngliche. Diese Position hat allerdings einen argumentativen Haken: Wenn das Medial-Unechte nur ein schlechter Abklatsch des Real-Echten ist, warum wählen dann Millionen von Menschen freiwillig diese – scheinbar unechten – Medienerfahrungen aus?

Die empirische und interdisziplinär angelegte Medienforschung verpflichtet sich, diese Fragen fundiert und ideologiefrei zu beantworten. Hier wird untersucht, warum Menschen Medien nutzen, welche spezifische Wirkung ein Format (also etwa das Fernsehen) unabhängig von dem Inhalt entfaltet, wie Inhalte verarbeitet werden und bei welchen Nutzergruppen unter welchen Bedingungen bestimmte (positive wie negative) Wirkungen zu erwarten sind. Es gibt mittlerweile eine Fülle von wichtigen Erkenntnissen und auch zum Zusammenhang von Mediennutzung und Sprachfähigkeit liegen inzwischen aussagekräftige Befunde vor. Dieses Thema ist für uns von ausserordentlicher Bedeutung, da zahlreiche der bei Kindern beliebten Medien (auch) einen sprachlichen Input liefern und damit als entwicklungsrelevante Größe im Leben eines Kindes berücksichtigt werden müssen.

Mit dem Themenschwerpunkt dieser Ausgabe, Mediennutzung und Spracherwerb, haben wir uns die Aufgabe gestellt, die Bedeutung elektronischer Medien für den Spracherwerbsprozess zu diskutieren, wobei wir interaktive Formate nicht berücksichtigen. Denn die Befundlage zum Zusammenhang von neuen, interaktiven Medien und dem Spracherwerb von Kindern ist leider noch viel zu dürftig und wenig aussagekräftig. In unserer eigenen Arbeitsgruppe hatten wir beispielsweise vor einiger Zeit den Versuch unternommen, interaktives mit linearem story telling im Hinblick auf das Sprachlernen bei 3- bis 4-jährigen Kindern zu vergleichen. Dabei konnten wir jedoch keinerlei Unterschiede identifizierten. Diese und ähnliche Arbeiten bleiben dann meist unpubliziert, weil die ausbleibenden Effekte nicht als Nachweis zu interpretieren sind. Bei der Auswahl von Beiträgen für dieses Heft haben wir uns deshalb auf die beiden elektronischen Medienformate konzentriert, die im Hinblick auf Sprachlernen am besten untersucht sind: Fernsehen und Hörspiele.

In der Arbeitsgruppe um Gerhild Nieding (Universität Würzburg) wird seit zwei Jahrzehnten intensiv zur Filmrezeption und -wirkung bei Kindern gearbeitet. Die Entwicklungspsychologin hat zusammen mit ihrer Mitarbeiterin Anna Katharina Diergarten einen Forschungsüberblick mit dem Titel „Der Einfluss des Fernsehens auf die Entwicklung der Sprachfähigkeit“ zusammengestellt, der die Befundlage differenziert darstellt und damit pauschalisierenden Bewertungen entgegentreten kann.

Mit dem 2. und 3. Beitrag berichten wir Originaldaten aus unserer eigenen Arbeitsgruppe, die sich vor mehr als 10 Jahren bildete und der Erforschung von Hörspielen im Kontext von Spracherwerb und -förderung widmete. Im ersten Beitrag, „Hörspielbasierte Sprachlerneffekte bei Vorschulkindern mit spezifischen Sprachentwicklungsstörungen“ (Sandra Niebuhr-Siebert und Ute Ritterfeld), wird von einer quasiexperimentellen Studie berichtet, mit der die Wirksamkeit von sprachförderlichem Hörspielinput bei Kindern mit spezifischen Sprachentwicklungsstörungen im Vergleich zu alters- und sprachleistungsparallelisierten Peers im Vorschulalter verglichen wird.

Der 3. Beitrag (Ute Ritterfeld, Bettina Pahnke und Timo Lüke) schließlich setzt sich mit der Frage auseinander, wie das Medium Hörspiel im Kontext von Mehrsprachigkeit genutzt wird. Denn frühere Arbeiten hatten bereits eine Verschiebung der Nutzungsgewohnheiten bei Vorschulkindern mit Sprachverarbeitungsdefiziten in Richtung bildlastiger Medien dokumentiert. Lesen Sie hierzu: „

Vergleich der Mediennutzung einsprachig und mehrsprachig aufwachsender Kinder zwischen 3 und 6 Jahren“.

Wir hoffen, mit dieser Auswahl zu einer differenzierten Diskussion um die Mediennutzung und deren Auswirkung auf den Spracherwerb beizutragen zu können und freuen uns über Ihr Interesse an dieser – medienvermittelten – Auseinandersetzung.

Prof. Dr. Ute Ritterfeld

Dr. Sandra Niebuhr-Siebert