Zeitschrift für Palliativmedizin 2011; 12(06): 237-238
DOI: 10.1055/s-0031-1295602
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Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Palliativmedizin / Palliative Care – wann und für wen?

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Publication Date:
07 November 2011 (online)

 

Palliativmedizinische Konzepte haben sich in den letzten Jahrzehnten verändert und verändern sich ständig weiter, um dem Bedarf palliativmedizinischer Versorgung gerecht zu werden. Lange Zeit war spezialisierte Palliativmedizin überwiegend onkologischen Patienten dann zugänglich, wenn sich das Lebensende deutlich abzeichnete und nur noch wenige Wochen oder Monate blieben. In der Palliativmedizin Tätige haben sich auch eine große Expertise bei der Begleitung von Tumorpatienten erworben. Dieses Konzept wird aber in den letzten Jahren in zweifacher Hinsicht in Frage gestellt. Können wir rechtfertigen, palliativmedizinische Versorgung nur onkologischen Patienten und nur am Lebensende anzubieten?

Zunächst zur Frage der zu betreuenden Patienten. Auch in den frühen Jahren der Palliativmedizin wurden nicht-onkologische Patienten, z. B. mit neurologischen Erkrankungen wie der Amyotrophen Lateralsklerose betreut. In der Zwischenzeit sind aber auch die palliativmedizinischen Bedürfnisse von Patienten mit fortgeschrittenen Herz-, Lungen-, Leber- oder Nierenerkrankungen erkannt. So wurde gezeigt, dass COPD-Patienten eine ähnlich hohe Symptombelastung haben wie Patienten mit primären oder sekundären Lungenkarzinomen. Die COPD-Patienten hatten aber eine wesentlich längere Überlebenszeit und somit bis zu zwei Jahre vor dem Tod eine Vielzahl von belastenden Symptomen wie Atemnot, Mundtrockenheit, Energielosigkeit oder Schmerzen, aber auch psychosoziale Belastung und Informationsbedarf ohne entsprechende palliativmedizinische Versorgung (1).

Die Frage des richtigen Zeitpunkts für palliativmedizinische Betreuung wurde durch die Ergebnisse einer großen randomisierten Studie aus Boston noch einmal deutlich. Patienten, die bei der Erstdiagnose eines nicht-kleinzelligen Lungen-Karzinoms (≥ Stadium IIIb) zusätzlich zur onkologischen Therapie standardisierte palliativmedizinische Betreuung mit Symptomkontrolle, Informationen und advance care planning erhielten, hatten nicht nur eine bessere Lebensqualität und weniger Depressionen, sondern auch eine längere Überlebenszeit (2). Diese Erkenntnisse sind sicher auch auf andere Tumorerkrankungen übertragbar, auch wenn der wissenschaftliche Beweis noch erbracht werden muss. Vergleichbare Studien für nicht-onkologische Patienten gibt es bisher nicht, aber bei den oben beschriebenen Symptombelastungen und palliativmedizinischen Bedürfnissen dieser Patienten sind ähnliche Effekte bei frühzeitiger palliativmedizinischer Einbindung denkbar.

In England wird schon seit einiger Zeit gefordert, den Bedarf für palliativmedizinische Betreuung nicht von Diagnose und Prognose abhängig zu machen, sondern von den palliativmedizinischen Bedürfnissen der Patienten (3).

Gibt es für diese Überlegungen einen gemeinsamen Nenner? Können wir uns ganz von Diagnose und Prognose lösen, wenn wir palliativmedizinische Betreuung anbieten wollen? Wie erkennen wir die palliativmedizinischen Bedürfnisse von Patienten und wann sollen wir sie erheben? Die Antwort könnte in der Kombination der oben genannten Überlegungen liegen. Anstatt das Erkennen palliativmedizinischer Bedürfnisse dem Zufall oder der Expertise und Einsicht einzelner Kollegen zu überlassen, sollten wir Kriterien für unterschiedliche Erkrankungen entwickeln und testen, anhand derer eine standardisierte Einschätzung im Sinne eines Screenings für körperliche und psychische Symptome und weitere palliativmedizinische Bedürfnisse wie Angehörigenbelastung, Informationsbedarf etc. durchgeführt wird. Erste Ansätze, gerade auch in Deutschland, gibt es hierzu bereits. So haben die Kollegen am Palliativzentrum der Universität Köln mit den Onkologen im Centrum for Integrierte Onkologie Krankheitsstadien für einzelne Tumorentitäten festgelegt, bei denen es zur Routinebetreuung gehört, dass ein palliativmedizinisches Gespräch mit dem Patienten mit Einschätzung der palliativmedizinischen Bedürfnisse erfolgt (4). Dies trifft z. B. bei Patienten in allen Stadien eines Pankreas-Karzinoms oder im Stadium IV eines Melanoms oder Sarkoms zu. Patientinnen im metastasierten Stadium oder mit einem Rezidiv eines Mamma-Karzinoms, die auch systemische Therapie erhalten, bekommen genauso ein palliativmedizinisches Assessment wie Patienten mit Prostata-Karzinom im metastasierten Stadium oder mit einem Rezidiv.

Ähnliche Vorschläge gibt es in der Zwischenzeit auch für einige fortgeschrittene internistische Erkrankungen wie COPD oder Herzinsuffizienz (3, 5). Wegen der schwierigen Prognose und der unterschiedlichen Krankheitsverläufe mit intermittierender Verschlechterung im Rahmen einer Exazerbation oder Dekompensation reicht bei diesen Erkrankungen die alleinige Stadieneinteilung nicht aus. Daher wird meistens das Erkrankungsstadium mit weiteren Kriterien wie Häufigkeit der ungeplanten Krankenhauseinweisungen in den letzten sechs oder 12 Monaten, zunehmende Kachexie, reduzierter Funktionszustand und spezifische Symptome wie Atemnot oder Funktionseinschränkung von Organen kombiniert. Die vorgeschlagenen Kriterien sind nicht konsentiert und weichen je nach Autor etwas voneinander ab, aber sie können doch einen Anhalt geben, wann ein tiefer gehendes Assessment indiziert sein kann.

Wie der in dieser Ausgabe veröffentlichte zweite Teil der Standards und Normen für Palliativbetreuung der EAPC eine wichtige Richtlinie für Inhalte und Strukturen der Palliativbetreuung darstellt, die Leistungsträgern, Anbietern und Politikern eine Orientierung gibt, sollten wir auch an internationalen Standards arbeiten wie alle Menschen palliativmedizinische Betreuung erhalten, die sie brauchen.

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Dr. Claudia Bausewein

Dr. Claudia Bausewein PhD MSc
Cicely Saunders Institute
King’s College London

Literatur bei der Autorin