Geburtshilfe Frauenheilkd 2011; 71 - B5
DOI: 10.1055/s-0031-1295373

Das metabolische Syndrom – eine (neue) Frauenkrankheit?

S Diederich 1
  • 1Berlin-Mitte

Ein metabolisches Syndrom liegt per definitionem der International Diabetes Federation (2005) vor, wenn bei einem Bauchumfang über 80cm (♀) bzw. von über 94cm (♂) außerdem mindestens zwei der folgenden Faktoren vorliegen: 1. Triglyzeride (nüchtern): >150mg/dl (>1,7 mmol/L) oder Behandlung einer Triglyceridämie; 2. HDL-Cholesterin: ♀ <50mg/dl (<1,29 mmol/L) oder ♂ <40mg/dl (<1,04 mmol/L) oder Behandlung einer Cholesterinstoffwechselstörung; 3. Blutdruck: >130mmHg systolisch und/oder >85mmHg diastolisch oder antihypertensive Behandlung; 4. Nüchternglukose: >100mg/dl (>5,6 mmol/L) oder Typ- 2-Diabetes. Eine essentielle, bisher unterschätzte Rolle spielt das intraabdominale Fett, dass in der Mitte zwischen unterer Rippe und oberem Anteil des Beckenkammes gemessen werden muss. Dabei bleibt festzuhalten, dass viele Personen einen guten Body-Maas-Index (BMI) haben, aber völlig pathologische Hüftwerte (intraabdominales Bauchfett!). Konsequenzen: a) Abdominale Adipositas – wichtiger ursächlicher Faktor für den Herzinfarkt; b) eine abdominale Adipositas erhöht signifikant das Risiko für einen Typ-2-Diabetes; c) vermehrtes Auftreten einer Insulinresistenz – Insulinresistenzsyndrom gilt als Vorläufer des Typ 2 Diabetes sowie d) Insulinresistenzsyndrom als Hauptursache des PCO-Syndroms. Essentiell ist der Diabetes mellitus (Definition): a) Diabetes-typische Symptome und Gelegenheits-Blutzucker 3 200mg/dl (11,1mmol/l) oder Nüchtern-Blutzucker 3 126mg/dl (7,0mmol/l) oder; b) 2-Std-Blutzucker 3 200mg/dl (11,1mmol/l) im oralen Glukose-Toleranz-Test (oGTT) oder HbA1c 3 6,5%. Diabetes-typische Symptome sind Polyurie, Polydipsie oder unklare Gewichtsabnahme; der Gelegenheits-Blutzucker kann unabhängig von Tageszeit und Zeit der letzten Mahlzeit geprüft werden; unter Blutzucker versteht man die Glukose-Konzentration im Plasma; beim nüchtern-Blutzucker (BZ) liegt die letzte Mahlzeit mindestens 8 Std vor BZ-Bestimmung; der oGTT wird immer nach WHO-Kriterien durchgeführt.

Es hat sich gezeigt, dass eine Intensive Lifestyle-Intervention (Schulung, Ernährungs- theapie, Bewegungstherapie, Metformin) in der Wirksamkeit jedes Medikament schlägt:

a) die Verbesserung der Insulinresistenz hat positiven Einfluss auf alle Faktoren des Metabolischen Syndroms; b) die Verbesserung der Insulinresistenz hat positiven Einfluss auf „Insulinreserve” und verzögert Diabetes-Manifestation

Zur Anwendung kommen ausserdem orale Antidiabetika die Biguanide, z.B. Metformin (Glucophageâ, Sioforâ, Diabetaseâ), die die Glukoseproduktion der Leber hemmen und zu einer erhöhten Glukoseaufnahme in die Muskeln führen, wobei die Insulinresistenz zurückgeht. Folgende Wirksamkungen werden beobachtet: HbA1c 1,2% ↓; Nüchtern Blutglukose 30–80mg/dl ↓, postprandiale Blutglukose 60–130mg/dl ↓; Triglyceride 0–30% ↓ sowie HDL 0–17%↑. Zu den Nebenwirkungen zählen Übelkeit, Appetitlosigkeit und Durchfälle, jedoch keine Hypoglykämien. Relative Kontraindikationen sind „Situationen mit Ischämien, Azidosen“, Herzinsuffizienz, Niereninsuffizienz, COPD und die periphere arterielle Verschlusskrankhiet (pAVK). Abgesetzt werden sollte Metformin perioperativ, vor Kontrastmittelgabe oder bei Diäten unter 800kcal/Tag. Die Dosierung beträgt zu Therapiebeginn 1×500mg; das Ziel sind 2×1000mg (Höchstdosis 3000mg/Tag morgens und abends vor oder nach dem Essen). Die Vorteile des Metformins sind Gewichtsabnahme, keine Hypoglykämie, niedrige Kosten, Abnahme des Bauchfettes und günstige Lipidparameter. Als Nachteile könnten die gastrointestinalen Nebenwirkungen gelten.

Zu den oralen Antidiabetika zählen weiterhin die PγPAR-γ-Agonisten Thiazolidindione (Glitazone), Actosâ (Pioglitazon) oder Avandiaâ (Rosiglitazon), deren Wirkung auf der Steigerung der Insulinempfindlichkeit der Leber, des Fettgewebes und der Muskulatur beruht und die als Insulinsensitizer angesehen werden können. Diese Präparate bewirken einen Abfall des HbA1c-Wertes um 0,8 bis –1,3% und einen Abfall der Nüchtern-Blutglukose um 20–40mg/dl. Allerdings steigt das HDL-Cholesterin um bis zu 10%. Die Triglyceride fallen zwischen 5–26% ab. Die Präparate eignen sich zur Diabetesprävention. Glitazone sollte bei Patientinnen mit gynäkologisch-onkologischen Erkrankungen kritisch diskutiert werden, speziell wenn sie Aromatase-Inhibitoren oder andere Präparate mit hohem Osteoporoserisko nehmen, da dieses verstärkt werden kann. Für PPAR γ Agonisten (Thiazolidindione) gelten heute folgende Vorteile: es handelt sich um eine pathophysiologisch orientierte Therapie ohne Hypoglykämie mit Diabetesprävention und Reduktion des Bauchfettes. Zu den Nachteilen zählen die Gewichtszunahme, der enge Indikationsbereich, das Frakturrisikosteigerung sowie die kardiovaskulären Risiken (Rosiglitazon). Zu den Nebenwirkungen der PPAR γ Agonisten Thiazolidindione (Glitazone) und Actosâ(Pioglitazon) sind Gewichtszunahme; Ödeme, Transaminasenerhöhung sowie Steigerung des Frakturrisikos. Hinzu kommen die Kontraindikationen Leberfunktionsstörung und Herzinsuffizienz (NYHA I bis IV). Die Dosierung von Actosâ liegt bei 1×15mg bzw. 1×30mg (max. 45mg) morgens vor oder nach dem Frühstück, wobei mit dem vollen Wirkungseintritt nach 4 bis 6 Monaten zu rechnen ist. Der Gemeinsame Bundesausschuß (Gemba) hat am 17.6.2010 für Glitazone und Glinide den Ausschluss der Verordnungsfähigkeit zu Lasten der GKV festgelegt.

Eine weitere hochinteressante Substanzgruppe sind die GLP1-Analoga (Inkretinminetika), die als subkutane Antidiabetika bezeichnet werden. Die GLP1-Analoga (Exenatid oder Liraglutid) werden im Gastrointestinaltrakt nach Nahrungsaufnahme freigesetzt. Aus den β-Zellen im Pankreas wird glukoseabhängig vermehrt Insulin freigesetzt, während die α-Zellen des Pankreas glukoseabhängig die Glukagonbildung reduzieren. Das Insulin bewirkt die erhöhte Glukoseaufnahme. Das reduzierte Glukagon bewirkt mit dem erhöhten Insulin eine verminderte hepatische Glukoseproduktion, womit es zu einer physiologischen Glukosesteuerung kommt.

Sowohl Liraglutid als auch Exenatid vermindern das Körpergewicht bei Patienten mit Metformintherapie. Zu den GLP1-Analoga zählen heute Byettaâ (Exenatid) und Victozaâ (Liraglutid). Sie bewirken die Steigerung der Insulinsekretion sowie die Suppression der Glucagonsekretion, ausserdem bewirken sie eine Sättigung. Der HbA1c fällt um 1,0–1,6%. Zu den bekannten Nebenwirkungen zählen gastrointestinale Symptome, wobei auch selten eine Pankreatitis beobachtet wurde. Kontraindikationen sind Diabetes mellitus Typ 1 und schwere Lebererkrankung, wie eine abgelaufene Pankreatitis. Dosiert wird s.c. Byetta 2×5µg/Tag, dann 2×10µg/Tag s.c., während Victoza 1×0,6mg/Tag s.c., dann 1,2–1,8mg/Tag s.c. appliziert wird. Als Vorteile werden angesehen: die gute Verträglichkeit, die Gewichtsreduktion, die fehlende Hypoglykämie sowie die positiven Effekte auf ß-Zellfunktion und die ß-Zellmasse des Pankreas. Zu den Nachteilen zählen die fehlenden Langzeitdaten, die fehlenden Endpunktstudien und der subkutane Applikationsmodus.

Das es sich beim metabolischen Syndom um ein multifaktorielles Krankheitsbild handelt, in dem der Hypertonus eine wichtige Rolle spielt gilt heute die Empfehlungen der Deutschen Hochdruckliga (2010): „Aufgrund der gegenwärtigen Datenlage scheint es vernünftig zu sein, eine Blutdrucksenkung auf 130–139/80–85mm Hg bei allen Hypertonikern (also auch bei Patienten mit Diabetes und KHK) zu empfehlen.“

Dies kann bekanntermassen durch Lifestyle-Änderung erreicht werden, die den sytolischen Blutdruck (syst. RR) senken. Eine Gewichtsreduktion mit dem Ziel-BMI zwischen 18,5–24,9 führt zu einer Reduktion des systolischen RR um 5–20mm Hg/10kg, wobei mediterrane Kost zu einer Reduktion um 8–14mm Hg (DASH-Diät=Dietary Approaches to Stop Hypertension) führt. Eine Salzreduktion <6g Kochsalz (=100 mmol Na+) reduziert den systolischen RR um 2–8mm Hg, während körperliche Aktivität zu einer Reduktion um 6–9mm Hg. Allein die Mäßigung des Alkoholkonsums verringert den systolischen RR um 2–4mm Hg.

Literaturempfehlungen

  • Eckel RH, Alberti KG, Grundy SM, Zimmet PZ: The metabolic syndrome. Lancet 2010; 375:181–183.

  • Guinhouya BC, Samouda H, Zitouni D, Vilhelm C, Hubert H: Evidence of the influence of physical activity on the metabolic syndrome and/or on insulin resistance in pediatric populations: a systematic review. Int J Pediatr Obes 2011 [Epub ahead of print].

  • Kaidar-Person O, Bar-Sela G, Person B: The Two Major Epidemics of the Twenty-First Century: Obesity and Cancer. Obes Surg 2011 [Epub ahead of print].

  • Simmons RK, Alberti KG, Gale EA, Colagiuri S, Tuomilehto J, Qiao Q, Ramachandran A, Tajima N, Brajkovich Mirchov I, Ben-Nakhi A, Reaven G, Hama Sambo B, Mendis S, Roglic G: The metabolic syndrome: useful concept or clinical tool? Report of a WHO Expert Consultation. Diabetologia 2010; 53:600–605.

  • Tamashiro KL, Sakai RR, Shively CA, Karatsoreos IN, Reagan LP: Chronic stress, metabolism, and metabolic syndrome. Stress 2011; 14: 468–474.

  • Zimmet P, Magliano D, Matsuzawa Y, Alberti G, Shaw J: The metabolic syndrome: a global public health problem and a new definition. J Atheroscler Thromb 2005; 12: 295–300.