Klinische Neurophysiologie 2011; 42(04): 252-253
DOI: 10.1055/s-0031-1285851
Erfahrungsbericht
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Erfahrungsbericht zum Projekt „Etablierung des Tractus-perforans-Modells der Temporallappenepilepsie an der Philipps-Universität Marburg“[*]

Report on Experience with the Project “Establishment of the Tractus Perforans Model for Temporal Lobe Epilepsy at the Philipps University of Marburg”
S. Bauer
1   Klinik für Neurologie, Standort Marburg, Universitätsklinikum Giessen und Marburg GmbH, und Philipps-Universität Marburg
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
30. August 2011 (online)

Mit einer Lebenszeitprävalenz von 3% gehören Epilepsien zu den häufigsten chronischen neurologischen Erkrankungen (Forsgren et al., 2005). Dabei sind etwa 60% der Epilepsien fokale Epilepsien, deren häufigsten Vertreter die mesiale Temporallappenepilepsie (TLE) aufgrund einer Hippokampussklerose (HS) darstellt. Hierbei handelt es sich um eine atrophische Gliose des Hippokampus und perihippokampaler Strukturen, deren Ätiologie bislang nicht geklärt ist (Sloviter 2005).

Bei symptomatischen fokalen Epilepsien wie der mesialen Temporallappenepilepsie ist regelhaft eine Latenzperiode zwischen anzunehmender Schädigung und Ausbruch der Epilepsie zu verzeichnen, in der epileptogene strukturelle und funktionelle Umbauvorgänge stattfinden (DeLorenzo und Sun 2006). Die Mechanismen dieser Veränderungen sind bislang nicht detailliert bekannt. Entsprechend ist eine pharmakologische kausale Therapie der Epilepsien nicht durchführbar. Die medikamentöse Behandlung erfolgt ausschließlich symptomatisch durch anfallsunterdrückende Antikonvulsiva mit wechselndem Erfolg. So werden ca. 90% der Patienten mit Temporallappenepilepsie und begleitender Hippokampussklerose durch eine medikamentöse Therapie nicht anfallsfrei (Semah et al., 1998).

Tiermodelle der Temporallappenepilepsie

Tiermodelle der Temporallappenepilepsie sind insbesondere deshalb erforderlich, weil eine kausale Therapie nur während der Phase der Epileptogenese ansetzen kann. Diese Phase bleibt aber beim Menschen mangels Symptomen zwangsläufig unerkannt. Im Tiermodell kann eine Epilepsie durch exogene Faktoren ausgelöst und die Wirkung verschiedener Therapien sowohl während der Epileptogenese als auch nach deren Abschluss bei Einsetzen der ersten spontanen Anfälle untersucht werden.

Als Tiermodelle der Temporallappenepilepsie werden (z. B. bei Ratten) am häufigsten chemokonvulsive Modelle (Pilocarpin, Kainat), das Kindling-Modell und elektrische Stimulationsmodelle verwendet (für eine Übersicht siehe Pitkänen, Schwartzkroin & Moshe, Models of Seizures and Epilepsy, Academic Press, 2005). Die chemokonvulsiven Modelle haben den Nachteil einer sehr starken Belastung für die Versuchstiere mit hoher Mortalität. Weiterhin konnte die Arbeitsgruppe von Prof. Sloviter (Tucson, Arizona, USA) zeigen, dass es nach intraperitonealer Kainatinjektion zu ausgedehnten kortikalen Schädigungen kommt, die keineswegs auf den Temporallappen beschränkt sind (Harvey und Sloviter, 2005). Ein hippokampaler Anfallsursprung wurde bei diesen Modellen nicht nachgewiesen.

Diese Nachteile deuten auf eine sehr eingeschränkte Validität der chemokonvulsiven Modelle hin. Der häufige Einsatz lässt sich vermutlich am ehesten dadurch erklären, dass das Modell für den Experimentator einfach zu verwirklichen ist, da nur eine einmalige systemische Injektion der epileptogenen Substanz erforderlich ist. Im Kindling-Modell wird eine Stimulationselektrode beispielsweise in die Amygdala eingebracht und das Versuchstier hierüber mit ansteigender Stromstärke über mehrer Tage oder Wochen regelmäßig stimuliert, bis unter Stimulation epileptische Anfälle auftreten. Die Anfallsschwelle sinkt während dieser Prozedur. Einige Nachteile der chemokonvulsiven Modelle lassen sich hierdurch vermeiden: Die Mortalität ist deutlich geringer, der Anfallsursprung ist eindeutig temporal lokalisiert. Nachteilig ist hingegen, dass in der Regel keine spontanen, sondern eben nur stimulationsgetriggerte Anfälle auftreten. Somit ist auch hier die Vergleichbarkeit mit der TLE beim Menschen mit spontanen Anfällen eingeschränkt. Das derzeit valideste Tiermodell der TLE besteht in der elektrischen Stimulation des Tractus perforans der Ratte, der den entorhinalen Kortex mit dem Gyrus dentatus des Hippokampus verbindet. Durch geeignete Stimulationsparameter lässt sich ein Status epilepticus auslösen, der die eigentliche Stimulation überdauert. Wird der Status epilepticus nach mehreren Stunden medikamentös durchbrochen, entwickelt das Versuchstier nach einiger Zeit (Tage bis Wochen) spontane Anfälle temporalen Ursprungs. Histologisch treten zugleich Veränderungen auf, die der Hippokampussklerose beim Menschen gleichen. Dieses Modell ist also hervorragend dazu geeignet, den Prozess der Epileptogenese auf zellulärer und subzellulärer Ebene zu untersuchen. Nachteile der Methode sind der relativ hohe Aufwand, da eine exakte Positionierung der Stimulations- und Ableiteelektroden im Tractus perforans bzw. Gyrus dentatus mittels stereotaktischer Chirurgie erforderlich ist, und die Tatsache, dass aufgrund der ausgedehnten Verbindungen der beiden Hippokampi regelmäßig eine bilaterale TLE auftritt, die beim Menschen eher selten anzutreffen ist. Nichtsdestoweniger ist das Modell den anderen TLE-Modellen an Validität überlegen und geht bei korrekter Durchführung mit einer geringen Mortalität einher.


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* gefördert durch das Stipendium für junge Wissenschaftler der DGKN Hintergrund