Gesundheitswesen 2011; 73 - A318
DOI: 10.1055/s-0031-1283596

Der Umgang mit Dicksein – Stigmaerleben und Bewältigungsformen sozial benachteiligter übergewichtiger Kinder und Jugendlicher

R Rehaag 1
  • 1Leibniz Universität Hannover, Hannover

Einleitung/Hintergrund: Stigmata bestimmen über Lebenschancen und sind für die Erfolgschancen von Prävention von grundlegender Bedeutung. Übergewicht ist eins der am stärksten stigmatisierenden körperlichen Merkmale. Die gewichtsbezogene Stigmatisierung soll im letzten Jahrzehnt zudem erheblich zugenommen haben. Das Projekt ‘Verbesserung der Wirksamkeit der Adipositasprävention für sozial benachteiligte Jugendliche’ hat in einer explorativen Forschungsphase in den Narrationen von übergewichtigen Jugendlichen Bewältigungsstrategien identifiziert, mit deren Hilfe sie versuchen Beeinträchtigungen ihres Selbstkonzeptes abzuwehren und deren Bedeutung für das Stigma-Management analysiert. Daten und Methoden: In Gruppendiskussionen wurde gestaffelt nach Alter, Geschlecht und kulturellem Hintergrund erhoben, wie betroffene Jugendliche ihren Alltag, Ausgrenzungserfahrungen infolge ihres Übergewichts und den Umgang damit beschreiben. Die Innovation dieses qualitativen Ansatzes ist es, konsequent die Perspektive der Betroffenen in den Mittelpunkt zu rücken. Insgesamt 60 Jugendliche haben an der ersten Sequenz von Gruppendiskussionen teilgenommen. In einer zweiten Sequenz standen die Erfahrungen von Eltern übergewichtiger Kindern im Mittelpunkt. Gruppendiskussionen wurden als Erhebungsmethode bevorzugt, da es um die Erforschung milieutypischer Orientierungen und kollektiver Erfahrungen geht, zu deren Mobilisierung es der wechselseitigen Bezugnahme und Herausforderung im (Gruppen-)Diskurs bedarf. Ergebnisse: Einschränkungen infolge des Übergewichts und der Umgang damit nehmen in den Erzählungen der Jugendlichen einen großen Raum ein, dominieren ihre Narrationen. Dieser Schwerpunktsetzung folgend werden auf dem Hintergrund von Goffmans Stigmatheorie aus dem transkribierten Material Bewältigungsformen herausgearbeitet, mit denen die übergewichtigen Jugendlichen Stigmatisierungssituationen begegnen und Stigma-Management betreiben. Einige davon sind unter Präventionsgesichtspunkten von besonderem Interesse, da sie eine gesundheitsförderliche Ausrüstung für die alltäglichen stigmatisierenden Begegnungen darstellen und dazu beitragen können, mit Stereotypen und Vorurteilen verbundene negative Auswirkungen auf die seelische Gesundheit zu reduzieren. Diskussion/Schlussfolgerungen: Der Vortrag reflektiert Implikationen der Forschungsergebnisse für eine stigmasensible Gestaltung der Adipositasprävention. Angesichts der Bedeutung des Stigmaerlebens gilt es bei der Ressourcenstärkung über Ernährung-, Bewegung und Stressbewältigung hinaus, auch den Umgang mit dem Gewichtsstigma und entsprechende Bewältigungskompetenzen als seelische Schutzfaktoren in Betracht zu ziehen.

Literatur:

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