Gesundheitswesen 2011; 73 - A168
DOI: 10.1055/s-0031-1283481

Die Piloterprobung eines zahnmedizinischen Dokumentationsbogens zur Erfassung gewaltbedingter Verletzungen: Evaluation und Prävalenzerhebung

L Herzig 1, D Hahn 1
  • 1Hochschule Fulda, Fulda

Einleitung/Hintergrund: Internationalen Untersuchungen zufolge weisen 88–94% gewaltbetroffener Frauen und Männer sichtbare Verletzungen im Hals- und Kopfbereich auf (Hiesh 2006; Nelms 2009; Ochs 1996). Zahnarztpraxen sowie zahnmedizinische und Mund-Kiefer-Gesichtschirurgische Notaufnahmen können geeignete Anlaufstellen in der Gesundheitsversorgung nach Gewalterfahrungen sein. Als Unterstützung wurden ein zahnmedizinischer Dokumentationsbogen, Handlungsempfehlungen sowie verschiedene Begleitmaterialien entwickelt, die eine gerichtsverwertbare Dokumentation ermöglichen sowie Unterstützung zum Ansprechen und zur Dokumentation bieten bzw. die Weiterleitung Betroffener an Hilfeeinrichtungen erleichtern. Daten und Methoden: In einer Pilotphase sollten der Dokumentationsbogen und die Begleitmaterialien in der Mund-Kiefer-Gesichtschirurgischen Hochschulambulanz des Universitätsklinikums Frankfurt eingeführt und evaluiert werden. Nach einer sechswöchigen Einführungszeit wurde mit einer Focusgroup mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die praktische Anwendbarkeit und Vollständigkeit des Dokumentationsbogens evaluiert. Gleichzeitig fand eine Prävalenzerhebung statt. Hierfür wurden die gewaltbedingten Verletzungen bei allen Personen dokumentiert, die im Projektzeitraum von März bis Ende Juni 2010 die Notaufnahme aufsuchten. Diese Dokumentationsbögen wurden nach Kriterien wie Alter, Geschlecht und Verletzungsform ausgewertet. Ergebnisse: Im Erhebungszeitraum wurden Gewaltverletzungen im Kopfbereich bei 50 Personen erfasst. Die Prävalenzerhebung zeigte, dass 80% der Gewaltverletzten Männer waren, von denen die Hälfte von unbekannten Tätern verletzt wurde. 20% waren Frauen, die nahezu alle von häuslicher Gewalt durch aktuelle und ehemalige Partner betroffenen waren. Die Gruppendiskussion zeigte, dass die Ärztinnen und Ärzte einschätzen, dass Gewaltopfer erstens immer männlich sind und zweitens die Taten im Zusammenhang mit Alkoholkonsum erfolgen. Dementsprechend werden Gewalttaten durch ehemalige oder aktuelle Partner bei Frauen unterschätzt, nicht gerichtsverwertbar dokumentiert und keine Hilfsangebote unterbreitet. Diskussion/Schlussfolgerungen: Frauen, die die Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgische Notaufnahme mit gewaltbedingten Verletzungen aufsuchen, sind in der Regel und anders als gewaltbetroffene Männern von Partnerschaftsgewalt betroffen. Der stationären und ambulanten zahnmedizinischen Versorgung sowie der Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie kommt eine bedeutsame Rolle in der Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung von gewaltbetroffenen Frauen zu.

Literatur:

Hsieh NK, Herzig K, Gansky SA, Danley D, Gerbert B: Changing dentists' knowledge, attitudes and behavior regarding domestic violence through an interactive multimedia tutorial. J Am Dent Assoc 137: 596–603, 2006 Nelms AP, Gutmann ME, Solomon ES, DeWald FP, Campbell PR: What victims of domestic violence need from the dental profession. J Dent Educ. 73(4): 490–498 2009 73 (4):490–498, 2009 Ochs HA, Neuenschwander MC, Dodson TB: Are head, neck and facial injuries markers of domestic violence? J Am Dent Assoc 127: 757–761, 1996