Diabetologie und Stoffwechsel 2011; 6 - P175
DOI: 10.1055/s-0031-1277446

Bedeutung des sense of coherence (Salutogenese) in der Krankheitsverarbeitung bei erwachsenen Patienten mit Diabetes mellitus Typ 1

R Paust 1, A Boeger 2, J Fleischer 2, C Spoden 2, R Krämer-Paust 3, R Bierwirth 4, B Tillenburg 1, B Schulze Schleppinghoff 4, HG Nehen 5, G Börsch 6
  • 1Elisabeth-Krankenhaus Essen, Diabetes-Zentrum, Essen, Germany
  • 2Universität Duisburg-Essen, Fakultät f. Bildungswissenschaften, Essen, Germany
  • 3Praxis für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Essen, Germany
  • 4Diabetes-Schwerpunktpraxis, Essen, Germany
  • 5Elisabeth-Krankenhaus Essen, Klinik für Geriatrie, Essen, Germany
  • 6Elisabeth-Krankenhaus Essen, Klinik für Innere Medizin, Gastroenterologie und Nephrologie mit Dialyse, Essen, Germany

Fragestellung: Im Salutogenesemodell von Antonovsky (1997) wird das Kohärenzgefühl (sense of coherence) als zentrale Steuerungsfunktion definiert, welche die Widerstandsfähigkeit gegenüber Stressoren erhöht und den Einsatz verschiedener Ressourcen und Copingstile anregt. Aufgrund bisheriger Studienergebnisse sind signifikante Zusammenhänge des Kohärenzerlebens mit psychologischen Facetten der Krankheitsverarbeitung, nicht aber mit der Stoffwechseleinstellung gemessen am HbA1c, zu erwarten. Jedoch lässt die Heterogenität des Krankheitsbildes die Annahme zu, dass in Subgruppen des Patientenkollektivs (weibliche Patienten, Patienten ohne Folgeerkrankungen) auch Zusammenhänge zwischen Kohärenzerleben und somatischen Parametern zu finden sind.

Methode: Im Rahmen einer quantitativen Querschnittserhebung (N=203, 59,1% weiblich) wurde untersucht, welche Rolle das Kohärenzgefühl in der Krankheitsverarbeitung bei erwachsenen Patienten mit Diabetes mellitus Typ 1 einnimmt. Das Kohärenzgefühl wurde mit der deutschen Fassung der Sense of Coherence-Scale (SOC L-9, Singer & Brähler, 2007) erfasst. Neben dem HbA1c wurde die Krankheitsverarbeitung mit dem Freiburger Fragebogen zur Krankheitsverarbeitung (FKV, Muthny, 1989), dem Fragebogen zur Erfassung von Ressourcen und Selbstmanagementfähigkeiten (FERUS, Jack, 2007), sowie dem Fragebogen zu diabetesbezogenen Belastungen (PAID, Welch, Jacobson, Polonsky, 1997) erfasst.

Ergebnisse: Es zeigte sich in der Gesamtstichprobe kein signifikanter Zusammenhang zwischen Kohärenzgefühl und Stoffwechseleinstellung (HbA1c). Eine geschlechtsbezogene Betrachtung der Stichprobe ergab signifikante negative Korrelationen bei Frauen (r=-0,230*, p=0,012). Hinsichtlich der Unterschiede bezogen auf das Vorliegen einer diabetesassoziierten Folgeerkrankung gab es keine Hinweise auf signifikante Zusammenhänge. Die Ergebnisse zeigten darüber hinaus, dass das Kohärenzgefühl mit zahlreichen Aspekten der Krankheitsverarbeitung korreliert. Ein niedrigeres Kohärenzgefühl geht mit weniger Ressourcen und Selbstmanagementfähigkeiten und mehr diabetesbezogenen Problemen einher und ist außerdem mit depressiv-kontrollierend-vermeidenden Krankheitsverarbeitungsstilen assoziiert. [Problemanalyse und Lösungsverhalten (r=-0,142*), Depressive Verarbeitung (r=-0,640**), Misstrauen und Pessimismus (r=-0,350**), Kognitive Vermeidung und Dissimulation (r=-0,390**), Ablenkung und Selbstaufwertung (r=-0,195**), Gefühlskontrolle und sozialer Rückzug (r=-0,494**), Regressive Tendenz (r=-0,358**)]. Die Zusammenhänge bildeten sich in einigen Aspekten etwas stärker bei Personen ohne Folgeerkrankungen und bei Frauen ab.

Schlussfolgerungen: Es wurden mannigfache Zusammenhänge zwischen Kohärenzgefühl und der erlebten Krankheitsverarbeitung von Patienten mit Typ 1 Diabetes, bei weiblichen Patienten zudem mit dem HbA1c, nachgewiesen. Möglichkeiten zur Förderung des Kohärenzerlebens und der Krankheitsverarbeitung sowie deren Evaluation sollten daher stärker in Betracht gezogen werden.