Diabetologie und Stoffwechsel 2011; 6 - P159
DOI: 10.1055/s-0031-1277430

Depressives Syndrom und Hypoglykämie: 20 Jahre Diagnoseverzögerung bei einer einfach zu behandelnden Erkrankung (Fallbericht)

S Richter 1, C Kloos 1, G Wolf 2, UA Müller 1
  • 1Universitätsklinikum Jena, Innere Medizin III, FB Endokrinologie & Stoffwechselerkrankungen, Jena, Germany
  • 2Universitätsklinikum Jena, Klinik für Innere Medizin III, Jena, Germany

Anamnese: Eine 52-jährige sehr schlanke Patientin klagt über seit Jahren langsam zunehmender Schwäche, belastungsabhängige Luftnot sowie Appetitlosigkeit, Erbrechen und fehlende Gewichtszunahme. Bei der Erhebung der gynäkologischen Anamnese fiel eine frühe Menopause mit 39 Jahren nach der zweiten Geburt auf, die per Sectio 1989 erfolgte und mit massivem Blutverlust und Intensivtherapie. Konnte nicht Stillen. Seit 2009 wegen Schwäche häufig geweint. Hausärztin äußerte Verdacht auf Depression. Zeitnaher Termin beim Psychiater war nicht möglich. Wegen niedriger Blutglukose Vorstellung in einer Diabetesambulanz. Die Patientin nimmt keine Medikamente ein.

Klinischer Befund: sehr schlanke Patientin, reduzierter Ernährungszustand (BMI 20,4), kühle, blasse, trockene Haut, grobe Schuppung am Rücken, Gesicht pastös, Augen verquollen, komplettes Fehlen der Achsel- und Schambehaarung, Schilddrüse nicht tastbar, Puls 55/min, RR 103/83mmHg, Herz, Lunge und Abdomen unauffällig.

Im Schildendrüsensonogramm sehr kleines Organ (1,7ml) mit echoreichem, gering inhomogenem Parenchym ohne Knoten. Osteodensitometrie: Normalbefund.

Diagnose und Einschätzung: Bereits durch die charakteristischen Beschwerden und typischen klinischen Zeichen des Hypogonadimus (fehlende sekundäre Behaarung, sekundäre Amenorrhoe nach komplizierter Geburt, sehr frühe Menopause), der Hypothyreose (Hypotonie und Bradykardie, blasse, trockene, schuppende Haut) und der Nebenniereninsuffizienz (Hypotonie, Schwäche, Hypoglykämie) konnte die Verdachtsdiagnose einer Hypophysenvorderlappeninsuffizienz (Sheehan-Syndrom) gestellt werden.

Labor: Hypoglykämie (Blutglukose: 3,2mmol/l), Anämie, Hyponatriämie, leichte Kreatinerhöhung, nicht messbares Cortisol mit niedrig normalem ACTH, nicht messbares freies T4 mit TSH im oberen Normbereich, Estradiol unterhalb des Messbereiches mit erniedrigtem LH und FSH, Wachstumshormon und Prolaktin erniedrigt. Im ACTH-Test konnte das Serumcortisol nicht ausreichend stimuliert werden. Schilddrüsen- oder Nebennierenantikörper sind nicht nachweisbar.

Therapie: Zwanzig Jahre nach der primären Schädigung bei einer schweren Geburt wurde anhand von Anamnese und klinischem Befund die Diagnose Sheehan-Syndrom gestellt. Unter Substitution von 15mg Hydrodcortison und L-Thyroxin beginnend mit 12 normalisierte sich die Leistungsfähigkeit der Patientin innerhalb weniger Tage (fühlt sich „super„, kann erstmals mehrere Etagen Treppen ohne Beschwerden steigen), Appetit und Gewicht nahmen zu, Übelkeit und Erbrechen verschwanden, die Stimmung normalisierte sich ohne antidepressive Therapie, das Serumkreatinin normalisierte sich. Die Patientin erhielt einen Cortisol-Notfallpass und führt die Therapie derzeit mit der Standarddosierung von 15mg Hydrocortison (10mg morgens und 5mg gegen 14 Uhr) sowie 50µg L-Thyroxin täglich fort. Ein Estrogenersatz wurde wegen fehlender Osteoporose nicht eingeleitet.