Klinische Neurophysiologie 2011; 42(3): 194-198
DOI: 10.1055/s-0031-1276925
Kongressbericht
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Das Nerven-Kostüm

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Publikationsdatum:
14. September 2011 (online)

Eine Alltagsmetapher

Ein Wort geht nicht mehr aus dem Kopf.

Ich weiß nicht, ob Sie das kennen; aber mir passiert das manchmal: Da geht mir ein Wort einfach nicht mehr aus dem Kopf. Meistens ist es ein Wort, das ich seit vielen Jahren benutze, ohne großartig darüber nachzudenken. Doch plötzlich hakt es sich irgendwo fest, von einer Sekunde auf die andere verliert es seine Selbstverständlichkeit. Ja schlimmer noch: es wird zum Problem. Ich muss innehalten; und ich weiß: Ich werde so lange nicht in Ruhe weiterleben, wie ich diesem Wort nicht wenigstens ein Stück nach- oder entgegengegangen bin.

Eines dieser Worte ist „Nervenkostüm”. Sie kennen es alle. Es ist kein besonders auffälliges Wort. Es ist leidlich verbreitet; man benutzt es gelegentlich, doch eher beiläufig und ohne sich allzu viel dabei zu denken. Dabei ist es kein Begriff, sondern immerhin eine Metapher, also ein sprachliches Bild, in dem Bestandteile verschiedener Bereiche zu einer Vorstellung verschmolzen sind.

Ich frage mich also zunächst, wie mag dieses Wort Nervenkostüm wohl entstanden sein? Haben die Humanwissenschaftler es geprägt, als sie vor ein paar 100 Jahren feststellten, dass der menschliche Körper von einer Art Geflecht aus Nervensträngen durchzogen und dabei gewissermaßen innerlich umhüllt ist? Schaut man sich entsprechende Darstellungen an, könnte man diesen Wortursprung vermuten. Tatsächlich bilden die Nerven ja so etwas wie ein Kleid, wenngleich es natürlich unter der Haut getragen wird.

Nun glaube ich allerdings weniger an eine solche Geschichte der Wortentstehung. Ich vermute, das Wort ist entschieden jünger, vielleicht stammt es aus dem späten 19., vielleicht auch erst aus dem frühen 20. Jahrhundert. Der früheste Nachweis, den ich bislang habe finden können, stammt aus einem 1942 verfassten Frontbericht eines Wehrmachtsangehörigen. Und vielleicht ist gerade dieser Fund kein Zufall. Mein Sprachgefühl sagt mir nämlich, dass das Wort Nervenkostüm, wenn es nicht sogar im militärischen Kontext entstanden ist, dort zumindest starke Verbreitung gefunden hat.

Denn hören Sie bitte einmal genau hin: Da klingt doch bei der Verwendung von Nervenkostüm eine gewisse Distanz oder sogar Herablassung gegenüber dem Gemeinten an. Ja, ich glaube, Nervenkostüm ist eine im Grunde ironische Wortfügung. Sie versetzt den Sprecher in die Lage, über etwas zu reden, über das er eigentlich nicht reden möchte, weil es zu peinlich oder zu intim ist. Und wem, meine Damen und Herren, sollte das Sprechen über seine nervliche Verfassung peinlicher sein als dem Soldaten, der ja quasi von Berufs wegen dazu verpflichtet ist, starke oder besser überhaupt keine Nerven zu haben.

Stellen Sie sich also bitte versuchsweise den schneidigen Oberleutnant aus dem Jahr 1914 vor. Jahrelang hat er über alles und jedes im Kasinotonfall daherschwadroniert, aber jetzt hat ihn angesichts der Materialschlachten an der Westfront die nackte Angst erfasst, sodass er vorübergehend in einer entsprechenden Einrichtung behandelt werden muss. Wieder entlassen, wird er den Teufel tun und offen über seine angegriffene Psyche reden. Stattdessen wird er nach Metaphern greifen, die es ihm ermöglichen, sich zumindest sprechend von seiner Schwäche zu distanzieren. Also wird er vielleicht sagen (denken Sie sich jetzt ein Monokel in meinem Auge): „Na, da hat der werte Herr Feind mir doch unfreundlicherweise ein paar Löcher ins Nervenkostüm geschossen. Musste kurze Auszeit nehmen und das flicken lassen.”

Ich bin mir ziemlich sicher, dass es genau diese ironische Distanzierung ist, die das Wort Nervenkostüm hat Karriere machen lassen. Denn ganz ehrlich: Wer von uns Menschen freut sich schon ungeschmälert an dem Umstand, dass wir ein lebenswichtiges Sensorium besitzen, dessen Funktionen und Parameter sich so wenig kontrollieren lassen. Unsere Hände sind unsere geliebten Werkzeuge, jedenfalls solange sie stark sind und wir sie steuern können. Unsere Nerven hingegen scheinen uns nie so recht zu gehören. Wir sind zwar auf ihre Leistungen angewiesen, um überleben zu können, doch gleichzeitig sind wir ihnen auch ausgeliefert. In den einschlägigen Redewendungen findet sich aufgehoben, was uns hier so alles passieren kann: Unsere Nerven können strapaziert werden, gespannt sein und dünn werden, sie können flattern und reißen, wir können sie sogar vollständig verlieren. Und das alles geschieht ohne unser Zutun, zwar innerhalb unserer Körpers, aber außerhalb unseres Willens. Wir haben, um eine andere Redewendung zu zitieren, unsere Nerven einfach nicht im Griff. Ja, schlimmer noch: Unsere Nerven können sich sogar selbstständig machen, um uns Streiche zu spielen.

Ich denke, dieser ganze Umstand ist in der Metapher Nervenkostüm aufgehoben. Wir tragen unsere Nerven wie ein Kostüm, d. h.: Sie kleiden uns, sie geben uns unseren Charakter und unsere innere Gestalt, doch zugleich empfinden wir sie als nicht ganz unser eigen – eben als ein Kostüm, also als etwas, das Kleid, aber auch Verkleidung sein kann, etwas Bergendes, aber auch etwas, das uns gegen unseren Willen bestimmt.

Durch die Metapher Nervenkostüm nun halten wir uns unsere Nerven ein wenig vom Leib, indem wir eine leichte ironische Distanz dazu schaffen. Wer sagt „Ich habe schlechte Nerven”, der steht ganz anders zu dem Problem als der, der sagt „Mein Nervenkostüm bekommt Risse”. Mit der ironischen Metapher wehren wir uns dagegen, mit unseren Nerven identisch gesetzt zu werden. Obwohl sie in Wahrheit sogar unter unserer Haut liegen, halten wir sie auf Abstand. Das heißt natürlich, wir versuchen es! Die Metapher dient als Beschwörung. Sie artikuliert den Wunsch, dass wir unseren Nerven nicht völlig ausgeliefert sein mögen. Ja, sie formuliert sogar die Hoffnung, es könnte möglich sein, die Nerven zu wechseln – ebenso wie man ein Kostüm wechselt.

Dr. Burkhard Spinnen

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