RSS-Feed abonnieren
DOI: 10.1055/s-0030-1270826
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
Volumenersatztherapie
Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
21. März 2011 (online)
Blut ist ein komplexes Organ, welches u. a. den Organismus mit Sauerstoff, Flüssigkeit und Nährstoffen versorgt, Gerinnungsfaktoren und Thrombozyten enthält und Abfallprodukte zu den Eliminationsorganen Leber und Niere transportiert. Ein Erwachsener verfügt über ca. 5–6 l Blut. Bei einem akuten Blutverlust, z. B. im Rahmen eines Unfalls oder eines chirurgischen Eingriffs, muss dieser mit Komponenten des Blutes, v. a. Flüssigkeit, schnellstmöglich ausgeglichen werden, da ansonsten die o. g. Aufgaben des Blutes nicht mehr erfüllt werden können. Im Folgenden wird die Therapie des Volumenverlusts behandelt, da eine Hypovolämie zum kritischen Absinken des Blutdrucks und zu schwerwiegenden Mikrozirkulationsstörungen in lebenswichtigen Organen, wie z. B. Herz, Nieren und Gehirn führt. Einem Volumenmangel können verschiedene Ursachen zugrundeliegen (Tab. [1]). Die Menge und Wahl des Volumen- oder Blutersatzes hängt vor allem von der Schwere des Blutverlusts ab (Tab. [2]).
Tabelle 1 Ursachen eines Volumenmangels. primärer Verlust Ursachen Vollblut Trauma perioperativer Bereich Wasser und Elektrolyte endokrine Erkrankungen renale Erkrankungen Diarrhö starkes Schwitzen pharmakologisch (Diuretika, Laxanzien, Steroide) Blutplasma (= Blutserum mit Gerinnungsfaktoren) Verbrennungen Sepsis
Tabelle 2 Stufenschema beim Blutverlust. Blutverlust Ersatz 10–20 % Kristalloide 20–30 % zusätzlich Kolloide 30–40 % zusätzlich Erythrozytenkonzentrate 40–60 % zusätzlich Frischplasma > 60 % zusätzlich Thrombozytenkonzentrate
Verteilung der Gesamtkörperflüssigkeit Der menschliche Körper besteht zu ca. 60 % aus Wasser, von dem ca. ⅓ extrazellulär und ⅔ intrazellulär vorliegen. Der extrazelluläre Pool wiederum liegt zu 75 % interstitiell und zu 25 % intravasal vor (Abb. [1]). Innerhalb des extrazellulären Pools ist eine schnelle Umverteilung möglich. Alle in Wasser lösbaren Proteine und Elektrolyte können Wasser binden und erzeugen so einen osmotischen Druck (Definitionen s. Tab. [3]). Der intravasale Anteil wird v. a. durch den kolloidosmotischen Druck der Plasmaproteine, die den Intravasalraum nicht verlassen können, aufrechterhalten. Sie binden Wasser und verhindern so eine Umverteilung in den extravasalen, interstitiellen Raum. Wasser und Elektrolyte können jedoch das Gefäßsystem frei verlassen.
Abb. 1 Verteilung der Gesamtkörperflüssigkeit.
Tabelle 3 Glossar. osmotischer Druck Vermögen von Ionen, Wasser zu binden isoton (= normoosmolar) Der osmotische Druck entspricht dem von Blutplasma. hyperosmolar (= hyperton) Der osmotische Druck ist höher als der von Blutplasma. kolloidosmotischer Druck (= onkotischer Druck) Durch Makromoleküle (= Kolloide) erzeugter osmotischer Druck. hyperonkotisch Der kolloidosmotische Druck ist höher als im Blutplasma.
Volumenersatzmittel
Es stehen 2 große Gruppen von Volumenersatzmitteln zur Verfügung (Tab. [4]). Wichtigste Eigenschaft von kristalloiden und kolloidalen Volumenersatzmitteln ist der Volumeneffekt, definiert als der Anteil des infundierten Volumens, welches tatsächlich intravasal verbleibt.
Tabelle 4 Volumenersatzmittel1. Kristalloide Wirkmechanismus Volumenersatz, aber max. 25 % Volumeneffekt (schnelle Umverteilung ins Interstitium) Kontraindikation Hypertonie, Hypervolämie NaCl 0,9 % HWZ ca. 30 min isotonische Kochsalzlösung Vollelektrolytlösungen Ringer® Jonosteril® (enthält Azetat) HWZ ca. 30 min Sterofundin®, Ringer-Laktat® (enthält Laktat) Glukoselösungen 0 % Volumeneffekt Glukose 5 %, 10 % oder 20 % Kolloide Wirkmechanismus Volumenersatz, bis max. 100 % Volumeneffekte (Rückverteilung von Wasser aus dem Interstitium in den Intravasalraum) unerwünschte Arzneimittelwirkungen allergen, Hemmung der Thrombozytenaggregation (v. a. Dextrane, HES), Juckreiz und Nierenversagen (durch Einlagerung von HES ins retikuloendotheliale System, v. a. in hohen Dosierungen, daher Höchstmenge 50 ml/kgKG empfohlen) Kontraindikation Sepsis, Niereninsuffizienz, Leberinsuffizienz (HES) HES 6 % 130/0,42 HWZ ca. 3 h Voluven® 6 % HES 10 % 130/0,42 HWZ ca. 6 h HyperHAES® (enthält zusätzlich hyperosmolares NaCl 7,2 %) Gelatine HWZ ca. 3 h Gelafundin® 4 % Albumin HWZ ca. 20 d Human-Albumin® 20 % (hyperonkotisch) HWZ = Halbwertszeit 1 Handelsnamen sind beispielhaft genannt, die Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Kristalloide Infusionslösungen Kristalloide Infusionslösungen sind Elektrolytlösungen, die keinen kolloidosmotischen Druck aufbauen können, da die Elektrolyte nur zu 25 % im Intravasalraum verbleiben und zu 75 % in den Extravasalraum umverteilt werden (Volumeneffekt 25 %). Zentrale Probleme von Kristalloiden sind die ggf. unphysiologischen Chloridkonzentrationen und die Gefahr einer Verdünnungsazidose. Isotonische Lösungen Ein einfaches Kristalloid ist die isotonische (= normoosmolare) Natriumchlorid-Lösung. Chlorid übernimmt hier die Aufgaben der negativ geladenen Plasmaproteine. Diese unphysiologisch hohe Chloridkonzentration supprimiert zum einen das Renin-Aldosteron-Angiotensin-System, und zum anderen ist die Niere physiologischerweise nicht in der Lage, so hohe Chloridmengen wieder zu eliminieren (renale Chloridintoleranz). Daher gibt es neben diesem Kristalloid auch Vollelektrolytlösungen (z. B. Ringer-Laktat-Lösung), die sich an der Ionenverteilung des Blutes orientieren (balancierte Elektrolytlösungen). Die Säuresalze Azetat, Laktat oder Malat können Protonen aufnehmen und minimieren dadurch die Gefahr einer Verdünnungsazidose mit nachfolgender kompensatorischer Alkalose. Laktat wird allerdings dabei in der Leber unter hohem Sauerstoffverbrauch verstoffwechselt und stört die Laktat-Diagnostik, weshalb azetat- oder malathaltige Vollelektrolytlösungen bevorzugt werden sollten. Glukoselösungen Glukoselösungen werden zur Therapie oder Prophylaxe (insbesondere bei Neugeborenen) einer Hypoglykämie, aber auch bei hypertoner Dehydradation eingesetzt, da Glukose komplett zu Wasser verstoffwechselt wird, wobei allerdings ein zu schnelles Absinken der Natriumkonzentration zu Hirnödemen und zentraler pontiner Myelinolyse führen kann. Glukoselösungen haben einen minimalen Volumeneffekt und verteilen sich rasch im Interstitium. Kolloidale Infusionslösungen Kolloidale Lösungen beinhalten hochmolekulare Substanzen wie Proteine oder Polysaccharide, die Wasser durch ihren kolloidosmotischen Druck binden und das Gefäßsystem nicht verlassen können, so dass bis zu max. 100 % der infundierten Menge intravasal zur Verfügung stehen (Volumeneffekt max. bis zu 100 %). Hydroxyethylstärke Häufig verwendete Kolloide sind Derivate der Hydroxyethylstärke (HES), die nach Molekulargewicht (kDa) und molarem Substitutionsgrad (Anzahl der Seitenketten) eingeteilt werden (z. B. HES 6 % 130/0,4). Je schwerer und verzweigter die Stärkemoleküle vorliegen, desto länger hält die Wirkung an, desto mehr unerwünschte Arzneimittelwirkungen sind aber auch zu befürchten. HES wird langsam durch Serumamylasen abgebaut, bis es renal abfiltriert werden kann (< 50 kDa). Über die Anlagerung an Thrombozyten hemmt HES die Thrombozytenaggregation und reduziert so die Blutviskosität. Alle kolloidalen Lösungen, auch HES, können allergische Reaktionen auslösen. Weiterhin können sich große Mengen HES in Zellen des retikuloendothelialen Systems einlagern und darüber hinaus zu Juckreiz und zu akutem Nierenversagen führen. Insbesondere bei septischen Patienten mit Niereninsuffizienz ist diese Komplikation mit einer erhöhten Mortalitätsrate assoziiert. Weitere Kolloide Andere Kolloide sind Dextrane und Gelatinelösungen, die aufgrund des im Vergleich zu HES höheren Risikos von anaphylaktischen Reaktionen nur zurückhaltend eingesetzt werden. Albuminlösungen werden zwar im Bereich der Pädiatrie zur Volumensubstitution weit verbreitet eingesetzt, finden jedoch im Erwachsenenbereich wegen des relativ hohen Preises in Deutschland aktuell selten Anwendung. Bei Leber- oder Niereninsuffizienz sowie bei schwerer Sepsis darf HES nur nach individueller Nutzen-Risiko-Abwägung angewendet werden bzw. muss durch andere Kolloide (z. B. Gelatine, Albumin) ersetzt werden. Hyperosmolar-hyperonkotische Lösungen Im Rahmen einer Small-Volume-Resuscitation wird eine hyperosmolar-hyperonkotische Infusion gegeben, um freie Flüssigkeit aus dem Gewebe in den Intravasalraum zu ziehen. Hierfür stehen hyperosmolare Kristalloide (z. B. NaCl 7,2 %) zur Verfügung, die mit hyperonkotischen kolloidalen Lösungen (z. B. HES 10 % 130/0,42) kombiniert werden, um mit einem minimalen Infusionsvolumen nahezu eine Verdoppelung des infundierten Volumens zu erreichen (Volumeneffekt bis max. 200 %). Fazit Zum Ersatz größerer Mengen Blutvolumen sind kristalloide Lösungen meist nicht ausreichend, sodass zusätzlich kolloidale Volumenersatzmittel, die länger im Gefäßsystem verbleiben, infundiert werden müssen. Aufgrund der spezifischen unerwünschten Arzneimittelwirkung von isotoner Kochsalzlösung (Verdünnungsazidose) sollten v. a. azetat- oder malathaltige balancierte Elektrolytlösungen als Kristalloide eingesetzt werden. Bei den kolloidalen Lösungen ist aktuell das HES am Weitesten verbreitet, das jedoch bei Leber- oder Niereninsuffizienz sowie bei schwerer Sepsis nur nach individueller Nutzen-Risiko-Abwägung angewendet darf oder durch andere Kolloide (z. B. Gelatine, Albumin) ersetzt werden muss.
PD Dr. med. Patrick Meybohm
Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Kiel
Arnold-Heller-Str. 3
24105 Kiel
eMail: meybohm@anaesthesie.uni-kiel.de
Dr. med. Ruwen Böhm
Institut für Experimentelle und Klinische Pharmakologie, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Kiel
Hospitalstr. 4
24105 Kiel
eMail: ruwen.boehm@pharmakologie.uni-kiel.de