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DOI: 10.1055/s-0030-1270268
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York
Wunddrainagen – Im Zweifel bitte nicht!
Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
15. Dezember 2010 (online)
Beweise dafür, dass sie wirklich nützen, gibt es kaum. Dennoch halten sich Wunddrainagen nach chirurgischen Eingriffen hartnäckig als Regelversorgung. Allen voran solche, die mit einem Vakuum arbeiten. Experten fordern ein Ende dieser Praxis.
Heute schon mal die Zahl der Drainagen auf Station gezählt? Wer ins Krankenhaus kommt, hat immer noch eine hohe Chance nach Knochenbruchoperation, Einbau eines künstlichen Hüftgelenks, nach Darm- oder Leberoperation zusammen mit einer Vakuumflasche aufzuwachen, die per in der Wunde installiertem Plastikschlauch von dort Sekret und Blut absaugen soll. Regelmäßig zu wechseln, um das Vakuum aufrechtzuhalten, so lange bis der Doktor den Schlauch zieht. Tenor: Bitte mal kurz die Luft anhalten ... Flasche belüften und raus mit dem Schlauch. Ein kurzer Schrei und vorbei. Da muss man durch! Muss man?
Keine Frage, für das Spülen von septischen Wunden, Entzündungsherden bleiben Drainagen wichtiges Hilfsmittel. Ganz anders ist heute hingegen die offizielle Sicht auf ihren Einsatz nach "aseptischen" Operationen. Viele Experten monieren, dass sie längst keine Routine mehr sein dürften, wo sie es noch sind.
Eine S3-Leitlinie zur Versorgung akuter Schmerzen nach Operationen aus dem Jahr 2007 bilanziert: "Soweit wie möglich sollte auf das Einlegen von Drainagen verzichtet werden." Versehen mit dem höchstmöglichen Gütesiegel der Evidenzbasierten Medizin (EbM) – einem Grade of Recommendation (GoR) Stufe A.
Quelle: Thieme Verlagsgruppe, Fotograf: Paavo Blåfield
"Für die meisten großen Gebiete der Chirurgie – bei Leistenhernien, Schilddrüsenchirurgie, Appendizitis, Kolorektaler Chirurgie, Gallenblase, Leber, Pankreas... haben wir mit Evidenzlevel 1a oder 1b ganz klar die Empfehlung Gar keine Drainage", resümiert Leitlinienkoordinator Prof. Edmund Neugebauer vom Institut für Forschung in der Operativen Medizin an der Universität Witten/Herdecke gGmbH in Köln. Nur bei wenigen Indikationen, etwa der Ösophaguschirurgie bleibe die Frage mangels Studien offen. Sonst aber gelte: "Verzichten Sie auf einen Einsatz!"
Doch Papier scheint geduldig. Vom Alltag scheint die hehre Leitlinie weit weg. "Auf einschlägigen Chirurgentagungen gehen regelmäßig 50 % und mehr aller Arme hoch, wenn der Moderator mal im Saal fragt, wer denn noch in gängigen Indikationen auf Drainagen setzt", ärgert sich Neugebauer. "Es geht nicht an, dass wir teure und aufwendige Studien machen, die ein eindeutiges Ergebnis liefern und dann wird das ignoriert, trotzdem weiter nach althergebrachter Art und Weise verfahren."
Dabei ist der Streit um den Einsatz der Drainagen schon lange steter Begleiter der chirurgischen Fachdiskussion.
Schon vor 2000 Jahren waren Röhrchen aus Holz, später aus Blei probates Mittel, um Eiter aus Wunden abzuleiten. Als Meilensteine in der Geschichte der Wunddrainagen gelten die vom Franzosen Charles Marie Édouard Chassaignac (1805 – 1879) eingeführten flexiblen Gummischläuche.
Erst im 19. Jahrhundert aber warben Berühmtheiten wie Theodor Billroth für einen generellen Einsatz von Drainagen auch in der "aseptischen" Chirurgie. Billroth propagierte einen Einsatz etwa bei Anastomosen in der Viszeralchirurgie, um z. B. der Gefahr vorzubeugen, dass womöglich doch noch ein Leck in einer frisch vernähten Darmwand blieb, was tödliche Folgen haben kann, wenn sich Darminhalt in die Bauchhöhe ergießt. Billroths britischer Kollege Lawson Tait meinte 1887: When in doubt, drain. US-Chirurg William Stewart Halsted betonte hingegen 1904: "The more imperfect the technique of the surgeon, the greater the necessity for drainage.”
Die Vakuumdrainage wiederum trägt den Namen des Franzosen Henri Redon. 1954 legten er und 2 Kollegen ihr Konzept in der Arbeit "Closure under reduced atmospheric pressure of extensive wounds" dar. Bis zu 900 mmHg Unterdruck in der Flasche sollen Wundreste, Sekrete aus der Wunde saugen und so die Rate an Hämatomen und Infekten verringern. Seither trat die Saugflasche ihren Siegeszug an. Über 90 % aller Drainagen in der Chirurgie sind nach Schätzungen Redon-Drainagen. Viel seltener kommen soglose Systeme zum Einsatz, wie das 1980 vom britischen Chirurgen James O Robinson am St. Bartholomew’s Hospital in London eingeführte "geschlossene Drainagesystem".
Doch schlägt das Pendel im Zeitalter der Evidenzbasierten Medizin längst wieder in die Richtung von William Stewart Halsted. Das Urteil der Studienlage ist heute negativ – wie etwa mehrere aktuelle Cochrane-Reviews bilanzieren. Wunddrainagen nach Schilddrüsenoperationen: keine Belege für Vorteile, evtl. aber längere Verweildauern im Krankenhaus. Drainagen nach Kaiserschnitt: keine Unterschiede bei Infektionen mit oder ohne Drainage. Bei Darmoperationen mit Anastomosen: keine Belege für einen Nutzen von Drainagen. Bei laparoskopischer oder offener Entfernung der Gallenblase: Drainagen schaden eher, als dass sie nützen. Bei Leistenbrüchen fehlen noch Studien. Bei Leberoperationen, wenn, dann eher Hinweise auf ein erhöhtes Infektionsrisiko durch Saugdrainagen.
Dito im Fachgebiet Unfallchirurgie und Orthopädie. Keine Vorteile durch Saugdrainagen bei Hüftgelenksfrakturen notiert eine niederländische Gruppe um Remy M. Tjeenk im Jahr 2006 nach Vergleich von 100 Fällen mit und 100 ohne Redonflasche. Fast gleichlautend das Fazit einer italienischen Gruppe um Prof. Norberto Confalonieri im Jahr 2004 bei Patienten, die ein künstliches Kniegelenk bekommen. Bei Kreuzband-OPs besser auf Saugdrainagen verzichten, raten Forscher um Martyn J. Parker vom Peterborough District Hospital im britischen Cambridgeshire im Jahr 2007. Im gleichen Jahr bilanziert die Gruppe, in einem weiteren Cochrane Review, dass es nicht genügend Evidenz für den Einsatz dieser Drainagen in der ganzen Orthopädie gibt.
Die antiquierten Drainagen widersprächen obendrein dem heutigen Grundsatz einer schnellen Mobilisation, resümiert Neugebauer. "Womöglich dislozieren sie dann sogar, wenn sich der Patient wieder bewegt – das behindert die rasche Genesung."
"Wir sollten auf Drainagen weitestgehend verzichten. Das muss die Regel sein", betont auch Prof. Christoph M. Seiler vom Studienzentrum der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, SDGC, am Universitätsklinikum Heidelberg. Das gelte für die subkutanen Drainagen, aber auch für viele tiefer, etwa im Bauchraum, liegende Drainagen. "Drainagen nach aseptischen Operationen, um das Sekret zu entfernen – das braucht man in der Regel alles nicht mehr", fordert Seiler.
Doch auch nach seinem Eindruck wird trotzdem oft tüchtig weiter drainiert. Seiler: "Jeder Chirurg muss sich fragen, nütze ich damit meinem Patienten und im Zweifel sollte er auf die Drainage verzichten." Wer dort, wo die Studienlage eigentlich dagegen spricht, weiter Drainagen legt, sollte dies nur noch im Rahmen von Studien machen. Allgemein- und Viszeralchirurg wissen aber auch: "Wir haben da ein Kommunikationsproblem."
Dass sich die Erkenntnis zu zögerlich durchsetzt, findet auch Prof. Christian Willy vom Bundeswehrkrankenhaus Ulm. An 704 chirurgischen Kliniken im deutschsprachigen Raum, die er Ende der 90er-Jahre zum Thema befragte, kamen in 80 % aller Operationen Drainagen zum Einsatz. Die Zahlen könnten seither gesunken sein, doch "zwischen dem, was Studien zeigen und dem, was gemacht wird, ist auch heute noch ein himmelweiter Unterschied", erklärt Willy.
Quelle: Thieme Verlagsgruppe
Und behält sich doch einen differenzierten Einsatz vor. "Gerade bei adipösen Patienten halte ich eine subkutane Drainage auch nach orthopädischen Operationen für sinnvoll." Oder beim gefürchteten Decollement – wenn sich durch schwere Quetschungen nach einem Unfall Hohlräume zwischen Haut und der tiefer liegenden Muskulatur geöffnet haben. Willy: "Da können Sie in schweren Fällen ja theoretisch den ganzen Unterarm hineinstecken – und dann würde ich nach der OP, bei der Sie diesen Hohlraum wieder schließen, ein, zwei Drainagen einlegen, um sicherzustellen, dass sich nicht erneut Blutergüsse bilden, die die Heilung behindern."
Und auch bei Gallenblasenoperationen, meint Willy, könne eine Drainage mitunter sinnvoll sein, um Probleme rasch anzuzeigen: "Sollte doch bei eigentlich vernähten Gefäßen, allen voran bei der Arteria cystika, die Naht abrutschen, dann sehen Sie das rechtzeitig daran, wenn sich die Drainage mit Blut füllt." Spätestens bei solchen Beispielen aber beginnt auch aktuell die Fachkontroverse.
"Die Vorstellung, ich lege eine Drainage, und alles ist sicher, solange nichts zu sehen ist, führt eher dazu, dass man sich in falscher Sicherheit wiegt", argumentiert Neugebauer. Plötzliche Schmerzen nach Operationen und Entzündungen seien ein ausreichender Indikator für Probleme, auch bei Gallenoperationen. Und notfalls gebe es heute auch viel bessere diagnostische Optionen. Neugebauer: "Eine Sonografie, evtl. eine interventionelle Endoskopie unter CT-Kontrolle gewähren rasche Aufklärung."
Drainagen sind auf dem Rückzug, aber nicht völlig aus der Orthopädie verbannt, sieht PD Ulrich Quint vom St.-Marien-Hospital Hamm: In der elektiven Gelenkchirurgie würden immer seltener Drainagen verwendet. Subkutane Drainagen seien heute in der Regel bei Endoprothesen-Operationen nicht mehr nötig, da dieser Gewebsabschnitt inzwischen durch die Art des operativen Zugangswegs weitgehend geschont werde. Allerdings könne es aus der Gelenkkapsel, dem Knochen und umliegenden tiefen Gewebe zu Nachblutungen kommen. "Wenn dann die Resorption der Umgebung nicht ausreicht, sollte eine Drainage eingelegt werden, um einen Bluterguss zu vermeiden", meint Quint.
Jenseits der Detaildiskussion steht allerdings die Redon-Drainage ob der Schmerzen beim Ziehen fast unisono in der Kritik. "Man kann sie grundsätzlich nicht schmerzfrei ziehen – auch wenn Sie die Vakuumflasche vorher belüften", erklärt Willy. Denn der Unterdruck bis zu 900 mmHg führe dazu, dass sogar gesundes Gewebe in den Schlauch gesogen wird. Diese "Gewebepilze", so Willy, rutschten meist auch dann nicht zurück, wenn man vorher belüfte. Sie würden vielmehr aus den Löchern herausgerissen, Schmerzen und schlimmstenfalls auch neue Blutungen entstünden. Willy: "Redon-Drainagen sollte man meines Erachtens generell nicht mehr einsetzen."
Sein Team setzt auf soglose Drainagen: "Mit Schläuchen aus Silikon, noch besser aus Polyurethan, die ziehen Sie ohne Probleme schmerzlos heraus." Der Haken dabei: Diese Systeme sind teurer als Redon-Drainagen. Auf 15 statt 5 Euro für die Redonflasche schätzt Willy die höheren Kosten sogloser Systeme. Für sich genommen keine Unsumme, bei vielen Tausend Patienten im Jahr für ein Haus dennoch ein Rechnungsposten.
"Wenn überhaupt, dann bitte soglose Drainagen", fordert auch Neugebauer. "Redon-Drainagen können Sie aufgrund der Schmerzen beim Ziehen einem Pa tienten nicht zumuten, wenn Sie ja auch gar keine Evidenz für einen Nutzen haben."
Christoph M. Seiler setzt derweil auf neue Studien. Nicht alleine, um neue Evidenz auf bereits vorhandene zu setzen. Beim Thema Schilddrüsenoperationen etwa ist die Datenlage erdrückend genug, um Drainagen vom OP-Tisch zu verbannen. Und doch ist das Heidelberger Studienzentrum derzeit bei den Planungen für eine neue große multizentrische Studie mit von der Partie, die erneut die Ergebnisse mit und ohne Drainagen just bei dieser OP vergleichen soll. Eine Forschungsstudie auch zur Fortbildung der Ärzte: Man wolle, so Seiler, diesmal möglichst viele Nicht-Unikliniken mit in der Studie haben. Denn Ärzte würden von einem positiven oder negativen Ergebnis für Drainagen eben gleich mehr überzeugt sein, wenn sie selbst an der Studie teilgenommen haben. Seiler: "Wir brauchen neue Wege, um Erkenntnisse in die Fläche zu kriegen, damit nicht aus bloßer Gewohnheit alles beim Alten bleibt."
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