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DOI: 10.1055/s-0030-1265420
Abbruch lebenserhaltender und lebensverlängernder Maßnahmen bei Patienten mit chronischen Bewusstseinsstörungen
Fragestellung: Die Entscheidung zur Therapiezieländerung ist ein zentrales Problem der Palliativmedizin. Bei Wachkoma-Patienten wird diese Frage oft gerichtlich geklärt. Wie entscheiden die Richter, welche Begründungen geben sie und auf welchem Krankheitsverständnis basieren die Entscheidungen?
Methode: Wir führten eine Analyse deutscher Urteile nach der Methode der Mixed Methods durch. Zunächst wurden mithilfe der juristischen Datenbanken Juris und Beck alle Urteile zur Therapiezieländerung bei Wachkoma-Patienten der letzten 20 Jahren identifiziert. Die Urteilstexte wurden deskriptiv-statistisch nach definierten Merkmalen analysiert. Zudem wurde eine Dokumentenanalyse mithilfe der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring durchgeführt.
Ergebnisse: Es wurden 32 Urteile zur Therapiezieländerung bei Wachkoma-Patienten identifiziert. Weniger als die Hälfte wurden in der ersten Instanz abgeschlossen (n=15, 47%). Dreimal entschied der Bundesgerichtshof in richtungsweisenden Entscheidungen. Die meisten Urteile wurden in Bayern (n=12) und Schleswig-Holstein (n=7) verhandelt. Mit Ausnahme von 3 Strafprozessen waren alle Urteile zivilrechtlicher Art. Obwohl die Gerichte in acht der 29 zivilrechtlichen Entscheidungen das Wachkoma als Erkrankung mit irreversiblem Verlauf ansahen, wurde nur in fünf Fällen (13%) die Beendigung lebenserhaltender Therapie genehmigt. Die Argumentation für die Weiterbehandlung basierte meist auf der vorhandenen ärztlichen Indikation bei unklarem Patientenwillen. Die Urteilstexte zeigen ein rudimentäres Krankheitsverständnis. Es wird nicht zwischen Wachkoma und minimalbewusstem Syndrom differenziert, die Prognose wird nur in 7 Urteilen erwähnt, medizinische Gutachten werden nicht in allen Fällen eingeholt.
Schlussfolgerung: Entscheidungen über Therapiezieländerungen gestalten sich fundamental anders, wenn sie aus dem medizinischen in den gerichtlichen Kontext gelangen. Die Implikationen für die palliativmedizinische Praxis werden diskutiert.