Zeitschrift für Palliativmedizin 2010; 11 - V6_3
DOI: 10.1055/s-0030-1265352

Ist ein frühkindlicher Hirnschaden kompliziert durch eine Akute Lymphatische Leukämie (ALL) ein Fall für die Palliativstation? Eine Kasuistik

C Heuchel 1, R Ordemann 2, US Schuler 3
  • 1Universitätsklinikum Carl Gustav Carus, MK1 und UPC, Dresden, Germany
  • 2Universitätsklinikum Carl Gustav Carus, Medizinische Klinik I, Dresden, Germany
  • 3Universität Dresden, MK1 und UPC, Dresden, Germany

Eine 45-jährige Patientin wurde der Klinik mit einer akuten Leukämie zugewiesen. Sie lebt in Folge eines frühkindlichen Hirnschadens betreut in einem Wohnheim und ist in ihrem Verhalten in etwa einem vierjährigen Kind vergleichbar. Massive Angst vor Ärzten und Pflegern macht nach Einschätzung durch die Zuweisenden eine aktive Therapie nach aktuellen Standards unmöglich. Bei Verlegung auf die Palliativstation war bereits eine eher palliativ zytoreduktive Therapie begonnen worden.

In schrittweiser Gewöhnung an Krankenhauspersonal und Abläufe gelang es, mithilfe der Betreuuerin das Vertrauen der Patientin zu gewinnen und unter großzügigem Einsatz von Midazolam die Diagnostik zu komplettieren (bcr/abl positive B-ALL, per se prognostisch ungünstig). In Abstimmung mit der gerichtlichen Betreuerin wurde der Schwenk auf ein nur gering individualisiertes, kurativ intendiertes Therapieprotokoll vollzogen und die Therapie nach 6-wöchigem Aufenthalt auf der Palliativstation wieder auf eine benachbarte hämatologische Station verlagert. Insgesamt wurden etwa 5 Monate einer intensiven Chemotherapie verabreicht und die Therapie ambulant mit einem Tyrosin-Kinase-Inhibitor fortgesetzt. Bei weitgehend normalisiertem Blutbild lebt die Patientin mehr als 1 Jahr nach Ende der intensiven Chemotherapie wieder in nahezu asymptomatischen Gesundheitszustand in ihrem Heim.

Dieser Ablauf entspricht nicht dem klassischen Bild von Palliativmedizin, wohl aber der Definition der WHO. Nach einem „untadeligem Assessment“ (Diagnose/Therapiemöglichkeiten) wurde die beste symptomatische Therapie (der kurative Ansatz) gewählt und dabei die psychosozialen Besonderheiten der Situtation berücksichtigt. Anhand der Entscheidungsfindung lassen sich ethische Probleme illustrieren. Wo schlägt der berechtigte Schutz von Behinderten vor Nebenwirkungen einer intensiven Therapie über die sie nicht mitentscheiden können in Diskriminierung um, weil eben diese Kuration vorenthalten wird?