Balint Journal 2010; 11(4): 99
DOI: 10.1055/s-0030-1262689
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York

Mehr Forschung für die patientenzentrierte Praxis

Research for Patient-Centred CareK. Köhle1
  • 1Psychoanalytische Praxis, Köln
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Publication Date:
07 December 2010 (online)

Michael Balint hat vor über 50 Jahren mit der Entwicklung der nach ihm benannten Fortbildungsmethode Medizingeschichte geschrieben. Seine auf die Reflexion der Arzt-Patient-Beziehung fokussierende Gruppenarbeit hat entscheidend dazu beigetragen, dass inzwischen das biopsychosoziale Verständnismodell in der ärztlichen Primärversorgung erfolgreich erprobt werden konnte. Heute ist Balint-Gruppen-Arbeit in der Weiterbildungsordnung für Ärzte der BRD die obligate Methode, um die Reflexion der Arzt-Patient-Beziehung einzuüben, u. a. in der Fortbildung für die Psychosomatische Grundversorgung. 

Wir können wohl annehmen, dass Michael Balint heute mit der Verbreitung seines Fortbildungsansatzes durchaus zufrieden wäre. Ausgesprochen unzufrieden dagegen wäre er vermutlich jedoch damit, wie wir bisher sein cetero censeo „training cum research“ befolgt haben. Was würde er uns heute wohl für die notwendige Intensivierung der Forschung empfehlen? 

Als Mitbegründer der intersubjektiven Sichtweise in der Psychoanalyse würde er zunächst wohl die Verbindung zu gleichgerichteten Entwicklungen in den Kulturwissenschaften suchen. Epistemologie, Semiotik, Kognitions-, Sprach- und Kommunikationswissenschaftler befassen sich intensiv damit, wie wir unsere Wirklichkeit bzw. unser Wissen kooperativ generieren [1] . Balint würde versuchen, diesen Ansatz auch für Probleme des Krankheitsverständnisses, der Krankheitsbewältigung und des Krankheitsverhaltens im Gesamtbereich der Medizin fruchtbar zu machen. 

Er würde für die Medizin Anschluss an das heute komplexere wissenschaftliche Verständnis von Interaktions- und Kommunikationsverhalten anstreben, das Bewusstsein für die Komplexität auch der Kommunikation zwischen Ärzten und Patienten fördern und seine Zielvorstellungen für die Weiterentwicklung der Praxis an dieser Komplexität orientieren. Als Wissenschaftler auch in Geduld geübt, würde er wohl damit beginnen, vorläufige Standards und Leitlinien für das heute schon Realisierbare zu formulieren und deren Umsetzung in die Praxis zu evaluieren. Damit würde er das bisher dominierende Vorgehen, den Vergleich mit den Defiziten traditionellen ärztlichen Interaktions- und Kommunikationsverhaltens, ergänzen durch die Untersuchung der Realisierbarkeit eines nach unserer Vorstellungen optimierten Verhaltens in einer modellhaft gestalteten Arbeitsrealität. Dieser Fragestellung gelten in einem ersten Ansatz auch die Beiträge dieser Ausgabe des Balint Journals. 

Michael Balint würde den Einsatz heute verfügbarer Dokumentations- und Forschungsmethoden in solchen Projekten wohl begeistert fördern. Perfektionierte Geräte erlauben es, auch in der Praxis unaufwändig Konsultationen aufzuzeichnen. International standardisierte Kategoriensysteme ermöglichen es, Interaktions- und Diskursverhalten sowohl im symbolischen als auch im subsymbolischen Bereich zuverlässig quantifizierend einzustufen. Qualitative Verfahren öffnen zusätzlich die Sicht auf komplexere übergreifende Muster subjektiven Erlebens und dialogischen Austauschs, in dessen Verlauf Wirklichkeit gemeinsam erkannt und (neu)gestaltet werden kann. Auch den Einsatz standardisierter Schauspielerpatienten zur Evaluation von Lernfortschritten im Gesprächsverhalten würde Balint wahrscheinlich begrüßen. Sein Interesse würde wohl auch den vielfältigen Mitteln multimedialer Unterstützung des Lernprozesses gelten, wie sie AACH (American Academy for Communication in Health Care) und EACH (European Academy in Health Care) anbieten. 

Michael Balint würde sich schließlich wohl auch einem wissenschaftlichen Diskurs mit Vertretern alternativer Ansätze nicht entziehen, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen seinem Konzept einer „patient-centred medicine“ und – beispielweise – dem aus Systemtheorie und Familientherapie abgeleiteten Modell einer „narrative-based primary care“ zu klären, wie es John Launer [1] heute an der Tavistock Clinic vertritt. 

Literatur

  • 1 De Jaegher H, Ezequiel D P, Gallagher S. Can social interaction constitute social cognition?.  Trends in Cognitive Sciences. 2010;  14 441-447
  • 2 Launer J. Narrative-based Primary Care. A practical guide. Abdingdon UK: Radcliff Medical Press; 2002 Weitere Literatur in den einzelnen Beiträgen und im Internet: www.netmediaviewer.deKap. 1, 28.1, 29, 45

Prof. Dr. med. K. Köhle

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50931 Köln

Email: karl.koehle@uk-koeln.de