Dtsch Med Wochenschr 2010; 135(30): 1498-1502
DOI: 10.1055/s-0030-1262439
Kommentar | Commentary
Ethik
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Wird in deutschen Kliniken rationiert oder nicht?

Wie genau wir es wissen und warum es nicht die wichtigste Frage sein sollte Is there health care rationing in German hospitals?How exactly do we know and why should it not be the most important question?D. Strech1 , G. Marckmann2
  • 1Institut für Geschichte, Ethik und Philosophie der Medizin, Medizinische Hochschule Hannover
  • 2Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Universität Tübingen
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Publikationsverlauf

eingereicht: 14.5.2010

akzeptiert: 10.6.2010

Publikationsdatum:
20. Juli 2010 (online)

Zusammenfassung

Eine in Fachkreisen und der Öffentlichkeit viel diskutierte Umfragestudie unter Klinikern zeigt, dass eine Rationierung medizinischer Leistungen in Deutschland bereits stattfindet. Seit der Publikation dieser Ergebnisse im Jahr 2009 wurden die Autoren mit verschiedenen Einwänden zur Glaubwürdigkeit dieser Ergebnisse konfrontiert. Wir präsentieren unsere Erwiderung auf vier häufige Einwände mittels weiterer empirischer Befunde und logischer Argumente. Anschließend wird argumentiert, welche Konsequenzen sich aus den Ergebnissen für die Rationierungsdebatte ergeben.

Aus den im Artikel dargelegten Gründen und aufgrund der empirischen Daten können wir davon ausgehen, dass die Ergebnisse nicht durch Missverständnisse oder politische Motivation der befragten Ärzte verzerrt sind – zumindest nicht in erheblichem Ausmaß. Vor dem Hintergrund der verdeckten Rationierung in Kombination mit dem Potential für Benachteiligungen vulnerabler Patientengruppen besteht deutlicher Handlungsbedarf zur Unterstützung der ärztlichen Profession. Unter Beachtung gesundheitlicher Opportunitätskosten sollte die Mittelerhöhung den Gesundheitssektor nicht die primär zu fordernde Konsequenz sein. Um einen medizinisch rationalen, ethisch wie rechtlich vertretbaren und ökonomisch sinnvollen Umgang mit den begrenzt verfügbaren Gesundheitsressourcen zu optimieren, muss vor allem die Verfügbarkeit und kritische Aufarbeitung der wissenschaftlichen Evidenz zu Nutzen- und Schadenspotenzialen medizinischer Maßahmen verbessert werden.

Abstract

A questionnaire study, conducted by the authors among a representative sample of hospital doctors in Germany, showed that health care rationing in German hospitals is already a fact. But since the results were published in 2009 the validity of its findings has been questioned. This article provides empirical data to demonstrate that the findings are not biased to any significant extent by misunderstandings or political motivation of the responding doctors. There is thus an urgent need for action in support of medical professionals to make it possible for them to deal with implicit rationing and with the potential disadvantages to which vulnerable groups of patients may be exposed. Taking into account health opportunity costs, increased funding in the health sector should not be the primary demand. The availability and critical appraisal of scientific evidence on the risk/benefit ratio of medical interventions must first be improved in order to optimize the administration of scarce health care resources in a medically rational way so that it is ethically and legally acceptable as well as economically reasonable.

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Prof. Dr. med. Dr. phil. Daniel Strech

Institut für Geschichte, Ethik und Philosophie der Medizin
Medizinische Hochschule Hannover

Carl-Neuberg Str. 1

30625 Hannover

eMail: estrech.daniel@mh-hannover.de