Intensivmedizin up2date 2011; 7(2): 77-78
DOI: 10.1055/s-0030-1256469
Editorial

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Intensivmedizin: ein selbstständiges Fach?

H.  Van Aken, G.  W.  Sybrecht
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Publication Date:
11 May 2011 (online)

Hugo Van Aken

G. W. Sybrecht

In der grundsätzlichen, seit Jahren anhaltenden Diskussion, ob die Intensivmedizin ein eigenes Fachgebiet werden soll, werden von Befürwortern und Gegner gute Gründe angeführt [1]. Die Anerkennung der Intensivmedizin als unabhängiges Fachgebiet würde sicher auch die Anerkennung der fachlichen Weiterbildung und der Tätigkeit in der Intensivmedizin steigern und die Intensivmedizin zu einer attraktiven Karriereoption für engagierte Assistenzärzte machen. Die Selbstorganisation und Eigenverantwortung für Fachstandards könnte die Patientenversorgung verbessern. Auch das Ansehen der Intensivmedizin an den Universitäten würde erhöht und zu einer neuen akademischen Generation von Intensivmedizinern mit Zugang zu wissenschaftlichen Geldern führen können. In Übereinstimmung mit den Zielsetzungen der Europäischen Kommission würden Standards vereinheitlicht und die freie Migration von Fachkräften möglich. Gegen eine Eigenständigkeit der Intensivmedizin spricht die Sorge vor einem verminderten zukünftigen Engagement der Ursprungsdisziplinen und die verstärkte Konfliktmöglichkeit zwischen den einzelnen Fachgebieten. Von wesentlicher Bedeutung ist aber auch die Frage nach den beruflichen Perspektiven der „Solo”-Intensivmediziner. Was ist, wenn die Intensivmedizin keine zufriedenstellende Berufswahl darstellt? Oder die Arbeitsbelastung im Schichtdienst zu einem „Burn-out-Syndrom” führt. Die Rückkehr in das größere Spektrum des „Mutterfachs” wäre nicht mehr möglich.

Bisher ist die Intensivmedizin innerhalb Europas nur in Spanien (Mitglied der Europäischen Union, EU) und der Schweiz (Mitglied des Europäischen Wirtschaftsraums, EWR) ein eigenes Fachgebiet, Großbritannien führte dieses im März 2011 ebenfalls als eine Option ein. In 10 der 27 Staaten der Europäischen Union gelten für die Intensivmedizin Regelungen einer fakultativen Zusatzkompetenz auf dem Boden einer Facharztweiterbildung in operativen oder konservativen Fachgebieten, ähnlich der deutschen Zusatzweiterbildung Intensivmedizin. Auch in Spanien und Großbritannien besteht übrigens dieser Zugangsweg zur Intensivmedizin zusätzlich. Die übrigen 17 Staaten der EU sowie Island und Norwegen als Mitglieder des EWR haben die Intensivmedizin in die Facharztausbildungen insbesondere der Anästhesiologie integriert, wobei die Ausbildungsdauer zwischen 6 und 24 Monaten variiert.

Auf Europäischer Ebene ist die Intensivmedizin zurzeit kein „anerkannter Berufsstand” nach der Liste in der Richtlinie 2005/36/EC des Europäischen Parlaments und des „Council of recognition of professional qualifications”. Für eine solche Anerkennung wäre erforderlich, dass die Intensivmedizin in 2/5 der Mitgliedstaaten als eigenes Fach anerkannt und ein entsprechender Antrag durch eine repräsentative und „qualifizierte” Mehrheit des „Committee on Qualifications of the European Commission” unterstützt wird. Die Kriterien der UEMS (Union Européenne des Médicins Spécialistes, European Union of Medical Specialists) zur Gründung einer Fachgesellschaft fordern, dass die betroffene Fachdisziplin in mehr als 1/3 der EU Mitgliedsstaaten als unabhängiges Fachgebiet anerkannt und im „Official Journal of the European Commission” (Medizinische Richtlinien) registriert sein muss.

Der Vorschlag, des Multidisciplinary Joint Committee of Intensive Care Medicine (UEMS MJCIM) die Intensivmedizin als eine Zusatzweiterbildung (particular qualification) in die Richtlinie 2012/36/EC aufzunehmen, wurde im April 2008 von der Mehrheit der Ratsmitglieder des UEMS angenommen. In dem von der EU unterstützten Projekt „Competency-Based Training in Intensive Care in Europe” (CoBaTrICE) wurden fachübergreifende Basisqualifikationen durch Konsensusentscheidungen festgelegt. Die zukünftige Weiterbildung von Intensivmediziner sollte unter Aufsicht des European Board of Intensive Care Medicine (EBICM, UEMS) nach den Inhalten des CoBaTrICE-Programms festgelegt und organisiert werden.

Die European Society of Anaesthesiology (ESA), das European Board of Anaesthesiology of the UEMS (EBA) und das Multidisciplinary Joint Committee of Intensive Care Medicine (UEMS MJCIM) unterstützen ausdrücklich nicht den Vorschlag, die Intensivmedizin zu einem eigenen Fach zu machen, auch wenn dies in einem Artikel in The Lancet [2] kürzlich suggeriert wurde. Anstatt neue Grenzen zu ziehen, sollte unser gemeinsames Ziel als Intensivmediziner darin bestehen, als Ärzte mit unterschiedlichen fachlichen Hintergründen, aber gemeinsamer, einheitlich geregelter intensivmedizinischer Weiterbildung die Patientenvorsorgung stetig zu verbessern und die Qualität der Intensivmedizin zu steigern.

Literatur

  • 1 Van Aken H, Mellin-Olsen J, Pelosi P. Intensive care medicine: a multidisciplinary approach!.  European Journal of Anaesthesiology. 2011;  28 3313-315
  • 2 Moreo R P, Rhodes A. Intensive care medicine: a speciality coming to LIFE.  Lancet. 2010;  376 1275-1276

Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. H. Van Aken

Chairman of Multidisciplinary Joint Committee of Intensive Care Medicine (MJCIM UEMS)
Direktor der Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin
Universitätsklinikum Münster

Albert-Schweitzer-Str. 33
48149 Münster

Prof. Dr. em. G. W. Sybrecht

Past President der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI)
Universitätsklinikum des Saarlandes
Innere Medizin

66421 Homburg/Saar