Psychiatr Prax 2010; 37(4): 202-205
DOI: 10.1055/s-0030-1254197
Szene

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York

Wege in die Zukunft – Einige Skizzen zur Weiterentwicklung der Psychiatrie in Deutschland

Further Information

Publication History

Publication Date:
18 May 2010 (online)

 

Ausgangslage

Die Psychiatriereform hat seit 1980 das Gesicht der Versorgungslandschaft in Deutschland erheblich verändert. Die bis dahin alleine die Versorgung tragenden Kliniken wurden zum Teil erheblich verkleinert und sowohl baulich als auch inhaltlich durch die Schaffung spezialisierter Angebote modernisiert. Durch den Aufbau von Institutsambulanzen und Tageskliniken wurde darüber hinaus dem von der Enquetekommission gesetzten Postulat der Gemeindenähe weitgehend Rechnung getragen. Vielerorts wurden die Kliniken zudem durch neu etablierte psychiatrische Abteilungen aus ihrer Versorgungsverpflichtung abgelöst [1], [2], [3]. Insgesamt ist es so gelungen, die Bettenzahl und die Verweildauer in allen Kliniken und Abteilungen mehr als zu halbieren. Zeitgleich erfolgte der Aufbau eines breiten Spektrums gemeindepsychiatrischer Dienste. Gleichwohl entsteht insgesamt ein sehr heterogenes Bild der Versorgungslandschaft. Neben sehr gut entfalteten Versorgungsregionen findet man Regionen, die noch einen erheblichen strukturellen Nachholbedarf aufweisen. Dies hat vor allem mit der Zersplitterung der Verantwortung zwischen Bund, Ländern und Kommunen zu tun und dem fehlenden politischen Willen, einheitliche Rahmenbedingungen für die Ausgestaltung und Finanzierung kommunalpsychiatrischer Dienste zu schaffen. So war und ist es letztlich dem freien Spiel der Kräfte und dem zumeist ehrenamtlichen Engagement Einzelner überlassen, die Entwicklung gemeindepsychiatrischer Dienste voranzutreiben.

Trotz aller Fortschritte bestehen aber berechtigte Zweifel, ob die bestehenden und höchst heterogenen Versorgungsstrukturen den Bedürfnissen namentlich chronisch Kranker gerecht werden. Immer noch lebt ein Großteil chronisch Kranker mehr oder weniger schlecht versorgt zuhause, zudem gibt es Hinweise auf eine Zunahme der Morbidität und eine zunehmende Abwanderung chronisch Kranker in die Obdachlosigkeit oder in Kliniken für forensische Psychiatrie, deren Bettenzahl in den letzten Jahren kontinuierlich zugenommen hat [4]. Dies hat einerseits zu tun mit der Zersplitterung der Zuständigkeiten namentlich der Kostenträger und andererseits mit den fehlenden Vorgaben, welche psychiatrischen Dienste im Rahmen der kommunalen Daseinsfürsorge vorgehalten werden müssen und welche nicht. Dieser mangelnde politische Wille ist aber nicht nur Ausfluss einer geänderten gesellschaftlichen Haltung, die anders als vor 20 Jahren bei seelischen Erkrankungen eher zum Wegsehen neigt oder Folge der mangelhaften Finanzausstattung der öffentlichen Dienste, sondern auch Folge einer fehlenden Willensbildung in den psychiatrischen Fachgesellschaften. So gibt es in Deutschland eine eher spärliche Fachdiskussion zur Versorgungssituation. Die Forschungsförderung konzentriert sich vornehmlich auf Themen der sogenannten biologischen Psychiatrie.

In engem inneren Zusammenhang mit dem hierdurch entstandenen Mangel an evidenzbasierten Erkenntnissen steht ein weiteres Phänomen: Das Bild der psychiatrischen Versorgung erscheint eigentümlich beliebig. So ist wohl die Rede von der Notwendigkeit kleinräumiger und gut erreichbarer Angebote und von dem Postulat der erforderlichen Vermeidung und Verkürzung stationärer Aufenthalte um nahezu jeden Preis, eine wissenschaftlich fundierte Debatte, was psychisch Kranken im Einzelnen an institutionellen Angeboten nützlich ist oder nicht, fehlt indes weitestgehend.

Gleichwohl lassen sich aus der Evidenz des klinisch-psychiatrischen wie des kommunalpsychiatrischen Alltags Wege ableiten, die dazu beitragen können, Fehler der Vergangenheit zu überwinden und in der Zukunft Strukturen zu schaffen, die näher an den Bedürfnissen der Nutzer angesiedelt sind als bislang. Im Folgenden sollen nun solche möglichen Wege einer zukünftigen Psychiatrie skizziert werden.

Literatur

  • 01 Aktion psychisch Kranke .25 Jahre Psychiatrie-Enquete. Bonn: Psychiatrie-Verlag; 2001
  • 02 Berger M , Fritze J , Roth-Sackenheim C , Vorderholzer U  Die Versorgung psychischer Erkrankungen in Deutschland. Heidelberg: Springer; 2005
  • 03 Aktion psychisch Kranke .Kooperation und Verantwortung in der Gemeindepsychiatrie. Bonn: Psychiatrie-Verlag; 2008
  • 04 Berger H . Chronisch psychisch krank - chronisch schlecht versorgt?.  Kerbe. 2008;  26 13-15
  • 05 European Commission .The State of Mental Health in the Europe Union. Brussels: European Commission; 2004
  • 06 Berger H . Situation der psychiatrischen Versorgung - Epidemiologische Bedarfsanalyse. Vortrag in der Führungskräftekonferenz des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen 2008. 
  • 07 Hosman C , Jané-Lopis E  Prevention of Mental Disorders. Geneva: World Health Organization; 2004
  • 08 Herman H , Saxena S , Moodi R  Promoting Mental Health. Geneva: World Health Organization; 2004
  • 09 Bandura A . Self-efficacy. The exercise of control. New York: Freeman; 1997
  • 10 Laaser U , Hurrelmann  Handbuch Gesundheitswissenschaften. Weinheim, München: Juventa; 2003
  • 11 Warner R  Prävention in der Psychiatrie - Was wirkt?. In: Schmidt-Zadel R , Kunze H , Peukert R  Prävention bei psychiatrischen Erkrankungen. Bonn: Psychiatrie-Verlag; 2004
  • 12 Amering M , Schmolke M  Recovery. Das Ende der Unheilbarkeit. Bonn: Psychiatrie-Verlag; 2007
  • 13 Antonovsky A . Salutogenese. Tübingen: DGVT; 1997
  • 14 Berger H . Gesundheitsförderung - Ein neuer Weg in der Psychiatrie.  Psychiat Prax. 2003;  30 14-20
  • 15 Walsh F . Strengthening family resilience. New York: Guilford Press; 1998
  • 16 Bundesministerium der Justiz. Sozialgesetzbuch V.