Zahnmedizin up2date 2010; 4(5): 529-540
DOI: 10.1055/s-0030-1250308
Varia

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Dentale Biomaterialkunde – aktuelles Wissen für die Praxis

Markus Balkenhol, Stefan Rupf
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Publication Date:
28 October 2010 (online)

Einleitung

Die zahnärztliche Werkstoffkunde hat sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten stark gewandelt. Dies betrifft jedoch mehr die inhaltliche Ausrichtung als ihre Bedeutung für die tägliche Praxis. Vielerorts hat man den Eindruck, insbesondere, wenn man die zunehmende Verringerung der Lehrstühle für zahnärztliche Werkstoffkunde an deutschen Universitäten betrachtet, dass die Thematik an Bedeutung verloren hat – vielleicht sogar entbehrlich geworden ist: Die Erforschung mechanischer Festigkeiten und Dauerbelastbarkeiten dentaler Werkstoffe scheint zugunsten der molekularbiologischen Auseinandersetzungen mit dem Mitochondrium einer Primatenmyokardzelle des rechten Ventrikels belanglos geworden zu sein.

Doch der Schein trügt. Auch wenn die dentale Werkstoffkunde aus dem Blickwinkel vieler Mediziner nebensächlich erscheint, ist sie doch für den Therapieerfolg in der täglichen zahnärztlichen Praxis unentbehrlich. Nur durch die Kenntnis der Eigenschaften dentaler Werkstoffe und insbesondere deren korrekte Verarbeitung lassen sich orale Strukturen langfristig gesund erhalten und nachhaltige Therapieerfolge in der ZahnMedizin erzielen. In diesem Zusammenhang muss klar zum Ausdruck gebracht werden, dass auch der Stand der Naturwissenschaften, der Medizintechnik und der Werkstoffwissenschaften nicht vor der Zahnärztlichen Werkstoffkunde haltgemacht und ihre Inhalte in den vergangenen Jahren maßgeblich verändert haben.

Hinzu kommt eine nicht zu unterschätzende Problematik bezüglich der Gesetzgebung: Dentale Werkstoffe fallen unter das Medizinproduktegesetz (MPG) und können folglich in der Eigenverantwortung der Hersteller in den Markt eingeführt werden [[1]]. Längerfristige klinische Prüfungen (> 3 Jahre), die insbesondere bei neu entwickelten Werkstoffen – z. B. für die Füllungstherapie – notwendig bzw. wünschenswert wären, sind leider eher die Ausnahme als die Regel. Dies hat in der Vergangenheit bereits zur Einführung von Dentalprodukten geführt, die Beschädigungen der Zahnhartsubstanz nach sich gezogen haben [[2]]. Sicher ist man als Zahnarzt gut beraten, sich bei der Materialauswahl, z. B. von Dauerrestaurationsmaterialien, an die renommierten Dentalfirmen zu halten und sich bei der Entscheidungsfindung auf die Ergebnisse klinischer Studien von Universitäten zu stützen.

Merke: Die Zulassung von Medizinprodukten erfolgt in Deutschland gemäß MPG in der Eigenverantwortung der Hersteller.

Ein weiteres Dilemma sind die immer kürzer werdenden „Innovationszyklen“ der Hersteller, sodass die Vielfalt der verfügbaren Werkstoffe – und insbesondere deren klinische Eignung und Leistungsfähigkeit – kaum noch überschaubar sind. Gleichermaßen ist für den Anwender häufig nicht transparent, ob es sich bei neueingeführten Produkten um „echte“ Innovationen handelt oder nur um geringfügige Modifikationen bestehender Produkte.

Die (ISO-)Normen, die für unterschiedliche Produktklassen bestehen, sind dabei wenig hilfreich, um verlässliche Aussagen über die Leistungsfähigkeit der Werkstoffe zu erhalten. Denn: An der inhaltlichen Gestaltung der Normen sind die Hersteller der Produkte maßgeblich mitbeteiligt, sodass man sich hier bezüglich der notwendigen Mindestwerte zur Erfüllung der Norm häufig auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigt.

Merke: Die Festlegung dentaler Normen erfolgt durch ISO‐Normausschüsse, in denen die Hersteller von Dentalprodukten maßgeblich beteiligt sind.

Seit vielen Jahren ist die zahnärztliche Werkstoffkunde darum bemüht, Prüfverfahren zu entwickeln, die eine verlässliche Prognose über die klinische Leistungsfähigkeit, das Verhalten und die Interaktionen von dentalen Medizinprodukten mit dem Organismus erlauben. Wenngleich es kein isoliertes Prüfverfahren gibt, welches all dies leisten würde, ist es die Summe einzelner werkstoffkundlicher Parameter, die dem erfahrenen Biomaterialkundler wichtige Hinweise auf das klinische Verhalten von Werkstoffen gibt. Dies kann jedoch letztendlich aussagefähige klinische Prüfungen nicht ersetzen.

Merke: Zur Abschätzung der Leistungsfähigkeit und klinischen Langlebigkeit von Dauerrestaurationsmaterialien sind klinische Prüfungen unabdingbar.

Literatur

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Prof. Dr. Markus Balkenhol

Universitätsklinikum des Saarlandes
Klinik für Zahnerhaltung, Parodontologie und Präventive Zahnheilkunde

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