Zahnmedizin up2date 2010; 4(3): 215-216
DOI: 10.1055/s-0030-1250012
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Basis- und Vollzahnarzt

Hans Jörg Staehle
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Publication Date:
24 June 2010 (online)

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

die University of Minnesota verkündete 2009 voller Stolz, dass ihre School of Dentistry als erste zahnmedizinische Ausbildungsstätte der Vereinigten Staaten von Amerika einen neuen, außerordentlich aussichtsreichen Bachelor-Studiengang für einen Basiszahnarzt mit dem Namen „Dental Therapist“ eingeführt hat. Warum erwartet man sich gerade in den USA so viel von einem abgespeckten Zahnmedizinstudium? Um diese Frage beantworten zu können, muss man das US‐amerikanische Ausbildungs- und Weiterqualifikationssystem einerseits und das gesundheitliche Versorgungssystem andererseits kennen. Wer in den USA Zahnarzt werden möchte, muss viel Geld in eine kostenpflichtige Ausbildung investieren. Auch die Weiterqualifikationen und Spezialisierungen nach dem Studium sind sehr teuer. Dafür können sich jene, die diese Investitionen getätigt haben, später in einem weitgehend privatisierten, kommerziell ausgerichteten Gesundheitsmarkt an ihrer Kundschaft schadlos halten.

Das US‐amerikanische Gesundheitssystem hat bekanntlich seine Schattenseiten. So sind in den USA viele Millionen US‐Bürger nicht nur medizinisch sondern auch zahnmedizinisch nicht oder nur unzureichend versichert und können sich im Fall einer oralen Erkrankung oftmals nicht einmal eine Basisversorgung leisten. Mit der neuen Gesundheitsreform von Präsident Obama soll den offenkundigen Missständen, die eine privatisierte (Zahn-)Medizin mit einer Polarisierung zwischen Unter- und Überversorgung nun einmal mit sich bringt, wenigstens ein bisschen abgeholfen werden. Aber wie sollen die Kosten, die auch dann hoch sind, wenn man sich nur auf das Allernotwendigste beschränkt, getätigt werden? Bekanntlich ist das private US‐amerikanische Gesundheitssystem eines der teuersten der Welt. Von einem Basis-Zahnarzt mit einer sehr kurzen und abgespeckten Ausbildung erwartet man offenbar eine kostengünstige Lösung dieses Problems. So wird die Aufgabe der neuen Berufsgruppe von Basiszahnärzten klar beschrieben: „Dental therapists work primarily in settings that serve low-income and underserved patients or in a dental health professional shortage area.“

Wie wird man zum Basis-Zahnarzt und was soll ein Basis-Zahnarzt leisten? Der kostenpflichtige Bachelor-Ausbildungsgang dauert 40 Monate, also wenig mehr als eine Ausbildung zur/m zahnmedizinischen Fachangestellten in Deutschland. Die Absolventen sollen vor allem überschaubare präventive und restaurative Eingriffe sowie einfache Zahnextraktionen preisgünstig vornehmen. Nicht hingegen soll sich der Basis-Zahnarzt mit weiterführenden endodontischen, parodontologischen oder prothetischen Interventionen beschäftigen und schon gar nicht mit implantologischen oder kieferorthopädischen Fragestellungen. Die pragmatischen US‐Amerikaner überlegen sich also, warum ein Basis-Zahnarzt die große Palette der zahnmedizinischen Fächer überhaupt erlernen soll, wenn er sie später ohnehin nie anwendet. Man ist der Meinung, dass eine Grundausbildung weitgehend reicht. Alles was darüber hinausgeht, kann bei Bedarf in späteren Ausbildungsgängen gegen entsprechende Bezahlung nachgeholt werden.

Man könnte vermuten, dass die Aufteilung in einen Basis- und einen Vollzahnarzt zu einer entrüsteten Diskussion über eine Zweiklassenzahnmedizin führt. In den USA und in vielen anderen Regionen der Welt ist dies aber nicht der Fall. Dort sagt man, lieber eine Zweiklassenzahnmedizin als eine Einklassenzahnmedizin, die nur die Zahlungsfähigen kennt und alle anderen vollständig ausklammert. Aus Sicht von Ländern mit einer großen Polarisierung in der zahnärztlichen Versorgung werden solche Überlegungen deshalb als ein Fortschritt begrüßt.

Aus Sicht der in der Bundesrepublik Deutschland praktizierten Zahnheilkunde dürfte das hingegen bislang noch als ein Rückschritt aufgefasst werden. Bei uns bestand nämlich bis vor Kurzem zumindest in der Außendarstellung ein Konsens darüber, dass es ein wichtiges Anliegen des Berufstands sein muss, eine Breitenversorgung der Bevölkerung auf hohem Niveau sicherzustellen. Dieser Konsens hat intern jedoch bekanntlich seit Langem durch die von maßgeblichen Vertretern unseres Berufsstands vorangetriebenen Privatisierungsbemühungen deutliche Risse bekommen. In der Ausbildung setzt man zwar nach wie vor auf eine Erhaltung der bisherigen Standards. Aber bereits in der Weiterqualifikation versäumte man es, von Zahnärztekammern getragene Fachzahnarzt- und Zusatzbezeichnungen auszubauen, obwohl dies dringend geboten gewesen wäre. Man überließ die Weiterqualifikation lieber den Kräftespielen des sogenannten freien Marktes mit dem Ergebnis, dass es inzwischen einen kaum mehr durchschaubaren Wildwuchs von zum Teil höchst fragwürdigen Weiterqualifikationen gibt. Allein die Palette der Master-Abschlüsse reicht von sehr guten Ausbildungsgängen bis hin zu rein kommerziell ausgerichteten Programmen, die eigentlich nur als Etikettenschwindel bezeichnet werden können und einer Art Titelkauf sehr nahe kommen.

Aber auch die seit Langem anhaltende, erbitterte Bekämpfung unseres Versorgungssystems mit einem ursprünglich hohen Gewicht von Gesetzlicher Krankenversicherung (GKV) und nur maßvollen Privatanteilen zeigt immer deutlichere Folgen.

Man kann nicht auf der einen Seite jahrzehntelang die solidarische Krankenversicherung verteufeln bzw. einer immer weiter fortschreitenden Privatisierung im Sinne des kapitalistischen Systems der Marktwirtschaft das Wort reden und auf der anderen Seite meinen, dies würde für die Versorgungsrealität der Bevölkerung keine Konsequenzen haben.

Alles, was die USA an „Innovationen“ in den letzten Jahrzehnten eingeführt haben, kam nach einer gewissen Zeit auch zu uns. Also werden wir möglicherweise ebenfalls wieder eine Differenzierung zwischen Basis- und Vollzahnarzt etablieren. Dies würde einer Rückkehr zu einer Situation entsprechen, die wir vor etwa 50 Jahren mit der Aufhebung des Standesdualismus von handwerklichen Dentisten und akademischen Zahnärzten endgültig überwunden glaubten. Abgewehrt werden kann dies nicht durch markige Worte von zahnärztlichen Standesführern. Falls man ernsthaft etwas dagegen halten möchte, muss die seit jeher ideologisch einseitig ausgerichtete Standespolitik einer grundlegenden Korrektur unterzogen werden. Wenn man einer Zersplitterung der Zahnärzteschaft vorbeugen möchte, müssen folgende Ziele verfolgt werden:

Die zahnmedizinische Universitätsausbildung muss breitgefächert auf hohem Niveau sichergestellt bleiben. Die Kosten dafür müssen weiterhin zum größten Teil vom Staat getragen werden. Studiengelder sind ein Schritt in die falsche Richtung. Die Weiterqualifikation darf sich nicht an kommerziellen Modeströmungen orientieren. Sie muss vielmehr durch einen Ausbau von Fachzahnarzt- und Zusatzbezeichnungen den wissenschaftlich fundierten Weiterentwicklungen der Zahnheilkunde Rechnung tragen. Für die Mundgesundheit der gesamten Bevölkerung ist ein niedrigschwelliger Zugang zu bedarfsgerechten, zahnmedizinisch begründeten Leistungen relevant. Der zahnmedizinische Fortschritt muss breiten Bevölkerungskreisen zugänglich bleiben. Aus diesem Grund sollte das GKV‐System gestützt und einer weiteren Privatisierung Einhalt geboten werden.

Vielen Standesvertretern sind einige der oben genannten Ziele geradezu ein Gräuel. Gleichwohl wissen sie, dass mit ihren politischen Forderungen die Polarisierung in ein Nebeneinander von Unter- und Überversorgung der Bevölkerung gefördert wird und deshalb die Entwicklung, wie sie sich in den USA und anderen Ländern zunehmend verschärft, auch für Deutschland über kurz oder lang Realität erlangen wird. Jedenfalls wirkt es nicht sehr überzeugend, wenn sich zahnmedizinische Wortführer heute über die Diskussionen zur Etablierung von Basis- oder Bachelor-Zahnärzten lautstark entrüsten. Sie sollten lieber zur Kenntnis nehmen, dass ihre bisherige Politik erst die Voraussetzungen dafür geschaffen hat, dass derartige Überlegungen auch in Deutschland auf fruchtbaren Boden stoßen können.

Herzlichst Ihr

Prof. Dr. Dr. Hans Jörg Staehle
Mitherausgeber der Zahnmedizin up2date

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