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DOI: 10.1055/s-0030-1249911
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
Antihypertensiva bei hypertensiver Krise/Notfall
Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
11. Juni 2010 (online)
Neben einer falsch eingestellten oder nicht erkannten arteriellen Hypertonie sind Angststörungen, Intoxikationen (MAO‐Hemmer, Kokain, Amphetamine, Alkoholdelir/-entzug) und Präeklampsie führende Ursachen eines plötzlichen Blutdruckanstiegs. Kommt es im Rahmen einer hypertensiven Krise (RR > 220/110 mmHg) zusätzlich zu Organfunktionsstörungen, wie z. B. Lungenödem, arterieller Blutung, Apoplex, Retinopathie oder Aortendissektion, liegt ein hypertensiver Notfall vor. Der hypertensive Notfall erfordert den Einsatz von schnell und stark wirksamen Antihypertonika, die jedoch kontrolliert eingesetzt werden müssen: Ein zu schnelles und starkes Absenken des Blutdrucks kann zur Unterversorgung von Gehirn, Herz und Nieren bis hin zur Ischämie führen und muss daher vermieden werden. So sollte der mittlere arterielle Blutdruck initial nur um 20–25 % und der diastolische Blutdruck auf unter 110 mmHg gesenkt werden. Bei bestimmten Krankheitsbildern (z. B. Apoplex oder Myokardinfarkt) sollte auf spezielle Kontraindikationen (z. B. Calciumkanalblocker) Rücksicht genommen werden. Weiterhin schränken eine evtl. auftretende Reflextachykardie (s. u.) und mögliche Arzneimittelinteraktionen die Wahl des Antihypertensivums ein (Tab. [1]).
Tabelle 1 Pharmakologische Profile der verschiedenen Antihypertensiva. Arzneistoff Reflextachykardie Arzneimittelinteraktionen und Schweregrad Indikation* neben hypertensiver Krise Kontraindikation* Varia Urapidil (+) + (CYP 3A4) Mittel der 1. Wahl Nitrendipin/Nifedipin ++ +++ (CYP 3A4) kardiale, renale oder zerebrale Ischämien, instabile Angina pectoris, Herzinsuffizienz Komedikation mit CYP 3A4-Inhibitoren Mittel der 2. Wahl, ggf. mit Betablocker kombinieren organische Nitrate +(+) +++ (PDE‐Hemmer) akutes Koronarsyndrom kurze HWZ Clonidin – + (Neuropharmaka) sedierend, analgetisch Furosemid – + (Kaliumverluste) Hypervolämie Hypovolämie * Auswahl
Tabelle 2 Antihypertensiva1. α1-Adrenorezeptorantagonisten („Alphablocker“) Wirkmechanismus Hemmung von α1-Adrenorezeptoren; Urapidil aktiviert auch 5-HT1A-Serotoninrezeptoren Wirkung Vasodilatation und Blutdrucksenkung unerwünschte Arzneimittelwirkungen Orthostase, Reflextachykardie (Ausnahme bei Urapidil) Kontraindikationen Herzinsuffizienz aufgrund mechanischer Funktionsbehinderung (z. B. Aortenisthmusstenose), Stillzeit Arzneimittelinteraktionen blutdrucksenkende Medikamente Urapidil HWZ 3 h Ebrantil® Ampullen 25 oder 50 mg 10–50 mg i. v. α2-Adrenorezeptoragonisten (Antisympathotonika) Wirkmechanismus Aktivierung von inhibitorischen α2-Adrenorezeptoren und I1-Imidazolrezeptoren → Sympathikushemmung Wirkung Blutdrucksenkung durch Vasodilatation und Abnahme der Herzfrequenz und des Schlagvolumens unerwünschte Arzneimittelwirkungen paradoxer initialer Blutdruckanstieg (α1-vermittelt), Sedierung, Analgesie, anticholinerge Wirkung Kontraindikationen Phäochromozytom, AV‐Block II–III°, Depression, Schwangerschaft, Stillzeit Arzneimittelinteraktionen Neuropharmaka (additive Blutdrucksenkung, QT‐Verlängerung) Clonidin HWZ 13 h Catapresan®, Paracefan® Injektionslösung 75, 150 oder 300 µg 75–150 µg langsam i. v. Calciumkanalblocker (= „Calciumblocker“, „Calciumantagonisten“) vom Dihydropyridintyp Wirkmechanismus reversible Blockade spannungsabhängiger Calciumkanäle (VGCC) vom L‐Typ Wirkung Vasodilatation, gering ausgeprägte negativ inotrope Wirkung unerwünschte Arzneimittelwirkungen Reflextachykardie, Flush Kontraindikationen Aortenisthmusstenose, Herzinsuffizienz (NYHA III–IV), Schwangerschaft (v. a. 1. Trimenon), Stillzeit Arzneimittelinteraktionen CYP-3A4-Inhibitoren wie Ketoconazol, Clarithromycin, Ritonavir, SSRI, Ranitidin Nitrendipin HWZ 10 h Bayotensin® akut Phiole mit Lösung zum Einnehmen 5 mg 5 mg p. o. Nifedipin HWZ 2 h Adalat®, Nife-CT®, Weichkapseln, Lsg. zum Einnehmen 5, 10 oder 20 mg 5–10 mg p. o. organische Nitrate (siehe Ausgabe 04/2009) Organische Nitrate wie Glyceroltrinitrat oder Nitroprussid (Nipruss®) werden für die Indikation der hypertensiven Krise aufgrund ihrer kurzen HWZ bevorzugt innerklinisch mittels Perfusor kontinuierlich appliziert. unerwünschte Arzneimittelwirkungen Cyanidfreisetzung durch Nitroprussid, daher Kombination mit Thiosulfat β1-Adrenorezeptorantagonisten („Betablocker“, siehe Ausgabe 04/2009) Betablocker können unterstützend, insbesondere bei einer Reflextachykardie, eingesetzt werden. Schleifendiuretika Wirkmechanismus Hemmung des renalen Na+-K+-2Cl−-Symporters → Verminderung der tubulären Wasserresorption Wirkung vemehrte Wasser- und Elektrolytausscheidung (Na+, Cl−, K+) unerwünschte Arzneimittelwirkungen Hypokaliämie, Hypotonie Kontraindikationen schwere Hypovolämie oder ‐kaliämie Arzneimittelinteraktionen Arzneistoffe, die ebenfalls eine Hypokaliämie bewirken (Laxanzien, Kortikoide), oto- und nephrotoxische Arzneimittel, Lithium Furosemid HWZ 1 h Lasix®, Furorese® Infusions- oder Injektionslösung 20 oder 40 mg 10–40 mg i. v. 1 Handelsnamen in der Tabelle sind beispielhaft genannt, die Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Verschiedene Faktoren, wie die Herzfrequenz, das Schlagvolumen und der periphere Widerstand, beeinflussen den arteriellen Blutdruck (Abb. [1]).
Abb. 1 Pharmakologische Beeinflussung des arteriellen Blutdrucks. Dargestellt sind in der Notfallmedizin genutzte Antihypertensiva und ihre Zielstrukturen, über die sie die verschiedenen kardiovaskulären Komponenten, die zum Blutdruckanstieg beitragen, hemmen.
Abkürzungen
CYP Cytochrom P450-Isoenzyme
SSRI selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer
HWZ Halbwertszeit
5-HT 5-Hydroxytryptamin (= Serotonin)
PDE Phosphodiesterase
Urapidil Der α1-Adrenorezeptorantagonist Urapidil ist das Standardmedikament beim hypertensiven Notfall. α1-Adrenorezeptoren vermitteln die Kontraktion von Gefäßen, erhöhen so den peripheren Widerstand und entsprechend den Blutdruck. Umgekehrt führt eine Blockade dieser Rezeptoren zu einer Vasodilatation mit Senkung des peripheren Widerstands und des arteriellen Blutdrucks. Normalerweise erfolgt als physiologischer Kompensationsmechanismus daraufhin eine Reflextachykardie. Da Urapidil allerdings zusätzlich über die Aktivierung von zentralen 5-HT1A-Serotoninrezeptoren das sympathische Nervensystem dämpft, ist die Reflextachykardie abgeschwächt. Gegen den Einsatz von Urapidil sprechen keine nennenswerten Kontraindikationen oder Arzneimittelinteraktionen. Der gleichzeitige Einsatz weiterer Antihypertensiva kann die Wirkung verstärken. Die Elimination erfolgt hepatisch über die Cytochrom-P450-Isoform 3A4 (CYP 3A4, s. auch Ausgabe 1/2010) sowie renal. Eine Dosisanpassung aufgrund eingeschränkter Eliminationskapazität ist jedoch im Regelfall nicht erforderlich. Weiteren α1-Adrenorezeptorantagonisten wie Prazosin oder Doxazosin fehlt die 5-HT1A-stimulierende Wirkkomponente. Sie werden daher nicht zur akuten Behandlung der hypertensiven Krise eingesetzt.
Nitrendipin/Nifedipin Calciumkanalblocker vom Dihydropyridin-Typ wie Nitrendipin oder Nifedipin sind die 2. Wahl. Zu beachten ist hier die Reflextachykardie. In diesen Fällen ist eine Kombination mit Betablockern sinnvoll. Bei Patienten mit einem frischen zerebralen oder myokardialen Infarktgeschehen oder Angina pectoris sollte auf den Einsatz von Calciumkanalblockern ganz verzichtet werden, da es aufgrund des Steal-Phänomens im Zielgewebe und durch die kardiale Belastung aufgrund der Reflextachykardie am Herzen zur Verstärkung der Ischämie kommen kann. Neben diesen Kontraindikationen ist die Elimination von Calciumkanalblockern stark von CYP 3A4 abhängig. Sie dürfen nicht verwendet werden, wenn zeitgleich CYP-3A4-Inhibitoren (z. B. Makrolide, Azol-Antimykotika, Antidepressiva vom SSRI‐Typ wie Fluoxetin, Ranitidin und Proteaseinhibitoren wie Ritonavir), eingenommen wurden.
Es ist immer noch gängige Praxis, Weichkapseln mit Nifedipin anzustechen und s. l. zu verabreichen. Dagegen spricht die schlechte Steuerbarkeit dieser Applikationsform. Der intravenöse oder perorale Applikationsweg (Weichkapsel zerbeißen und sofort hinunterschlucken) sollte daher bevorzugt werden.
Weitere alternative Antihypertensiva in der präklinischen Notfallmedizin sind Clonidin, organische Nitrate und Furosemid (Tab. [2]).
Clonidin Clonidin aktiviert überwiegend inhibitorische α2-Adrenorezeptoren sowie I1-Imidazolrezeptoren und im geringen Umfang auch α1-Adrenorezeptoren. Die Folge ist eine Hemmung des Sympathikotonus (→ Senkung des arteriellen Blutdrucks), des Parasympathikus (→ Mundtrockenheit), (sub)kortikaler Strukturen (→ Sedierung) und schmerzleitender Bahnen (→ Analgesie). Clonidin eignet sich demnach hervorragend zur Analgosedierung mit Blutdruckstabilisierung. In den ersten Minuten kann es zu einem paradoxen Blutdruckanstieg kommen, da zunächst die α1-vermittelte vasokonstriktorische Wirkung überwiegt, ehe dann der Blutdruck schließlich absinkt. Bei hypertensiven Notfällen ist dieser initiale Blutdruckanstieg problematisch.
Glyceroltrinitrat/Nitroprussid Organische Nitrate wie Glyceroltrinitrat („Nitroglycerin“) und Nitroprussid wirken stark vasodilatatorisch und können eine Reflextachykardie auslösen. Präklinisch ist die kurze HWZ (2–4 min), die eine wiederholte Gabe oder einen kontinuierlichen Einsatz mittels eines Perfusors erfordert, limitierend. Organische Nitrate wurden bereits als Basistherapeutika beim akuten Koronarsyndrom (Ausgabe 4/2009) beschrieben. Es ist noch einmal auf die Arzneimittelinteraktion mit Phosphodiesteraseinhibitoren wie Sildenafil hinzuweisen, die zu einer lebensbedrohlichen Hypotonie führen kann.
Diuretika Diuretika können unterstützend zur Reduktion des Blutvolumens eingesetzt werden, wenn Zeichen einer Stauung und Überwässerung bestehen. Schleifendiuretika wie Furosemid weisen einen schnellen Wirkungseintritt und eine starke diuretische Wirkung auf, und eignen sich daher besonders für die Behandlung der hypervolämischen hypertensiven Krise.
Fazit
Aufgrund seines guten Wirkprofils (keine Reflextachykardie), seiner geringen Arzneimittelinteraktionen und der praktisch fehlenden Kontraindikationen ist Urapidil das Mittel der Wahl bei der Behandlung der hypertensiven Krise/Notfalls. Bei spezifischen Komorbiditäten muss auf einzelne Medikamente verzichtet werden (z. B. keine Calciumkanalblocker bei akuten Ischämien) bzw. ist ein anderes Medikament sinnvoll indiziert (z. B. Nitrate bei hypertensiver Krise mit akutem Koronarsyndrom).
Priv.-Doz. Dr. med. Patrick Meybohm
Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin
Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Kiel
eMail: meybohm@anaesthesie.uni-kiel.de
Dr. med. Ruwen Böhm
Institut für Experimentelle und Klinische Pharmakologie,
Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Kiel
eMail: ruwen.boehm@pharmakologie.uni-kiel.de