PiD - Psychotherapie im Dialog 2010; 11(3): 258-261
DOI: 10.1055/s-0030-1248529
Aus der Praxis

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Bedürfnisangepasste Behandlung und Offene Dialoge

Volkmar  Aderhold, Nils  Greve
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Publication Date:
18 August 2010 (online)

Zusammenfassung

Das finnische Modell der Bedürfnisangepassten Behandlung („need-adapted treatment”) entstand insbesondere für die Behandlung psychotischer Ersterkrankungen im Rahmen eines längeren Entwicklungsprozesses und wird derzeit in etwa einem Viertel der Regionen Finnlands und in anderen skandinavischen Ländern als Routineversorgung bei Psychosen umgesetzt. Kennzeichnend sind die sofortige und flexible Hilfe, die Einbeziehung der Familien und weiterer Bezugspersonen in der Form sogenannter „Therapieversammlungen” von Beginn an und möglichst zu Hause beim Patienten, eine dezidiert psychotherapeutische Ausrichtung der Behandlung, die personale Kontinuität durch ein multiprofessionelles therapeutisches Team und eine möglichst niedrig dosierte selektive Psychopharmakotherapie. Ungefähr die Hälfte der Patienten nimmt zusätzlich längerfristige Einzeltherapie in Anspruch. Innerhalb dieses Behandlungsmodells wurde in der Versorgungsregion West-Lappland unter der Leitung von J. Seikkula und inspiriert durch T. Andersen aus Tromsö (Norwegen) die systemische Methodik des Offenen Dialogs entwickelt. Sie ist ausgerichtet auf die sozialen Netzwerke der Patienten, fördert durchaus vielstimmige Dialoge und schafft einen möglichst sicheren Rahmen für einen gemeinsamen offenen Prozess. Darin sind größtmögliche Gleichwertigkeit, gemeinsame Verantwortung und das Aushalten von Unsicherheit unter Vermeidung vorzeitiger Schlussfolgerungen und Entscheidungen leitende Prinzipien. Die flexible Anwendung der Methode des Reflektierenden Teams erwies sich als ausgesprochen hilfreich. Die Evaluation durch vergleichende Kohortenstudien zeigte signifikant bessere symptomatische und funktionelle Ergebnisse im Vergleich zur Standardbehandlung, insbesondere eine geringe Hospitalisierungsrate und hohe Integration in bezahlte Arbeit oder Ausbildung.

Literatur

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  • 13 Seikkula J, Arnkil T E. Dialoge im Netzwerk. Neue Beratungskonzepte für die psychosoziale Praxis. Neumünster; Paranus Verlag 2007
  • 14 Thornicroft G, Tansella M. Better mental health care. Cambridge; Cambridge University Press 2009

1 Wir benutzen den Terminus „Schizophrenie” aus Konvention und um wissenschaftliche Studien zitieren zu können. Schizophrenie ist jedoch ein Konstrukt unbekannter Gültigkeit (Validität) und seine Diagnostik von nur moderater Zuverlässigkeit (Reliabilität). Auch ist der stigmatisierende Effekt dieser Diagnose groß. Die diskutierte Abschaffung des Begriffes in einem neuen DSM-V (ca. 2013) kann nur erhofft werden.

Dr. med. Volkmar Aderhold

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