Psychiatr Prax 2010; 37(5): 216-218
DOI: 10.1055/s-0030-1248478
Debatte: Pro & Kontra

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Ende der ärztlichen Dominanz in der Psychiatrie

The End of Physicians’ Dominance in PsychiatryPro: Stefan  Priebe Kontra: Markus  Weih, Johannes  Kornhuber
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Publication Date:
01 July 2010 (online)

Pro

Die moderne Psychiatrie wurde im 19. Jahrhundert von Ärzten als eigenständiges Fach in der Medizin etabliert. Ärzte waren es auch, die die Psychiatrie in der Folgezeit weiterentwickelten und in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts grundlegend reformierten. Sie waren bei diesen Initiativen nicht allein, aber haben sie doch dominiert. Auch heute sind die meisten Professoren in der Psychiatrie Ärzte, und Ärzte haben mehr rechtliche Kompetenzen und Verantwortung in der psychiatrischen Versorgung als jede andere Berufsgruppe. Auf Psychiaterkongressen kann man weiterhin den Eindruck gewinnen, die ärztliche Dominanz in der Psychiatrie sei ungebrochen. Aber ist das wirklich so?

Man kann die Psychiatrie zumindest in 3 Bereichen dominieren: 1.) in der „Macht”, psychiatrische Versorgung zu bestimmen und psychiatrische Einrichtungen zu leiten; 2.) in der psychiatrischen Wissenschaft und 3.) in der therapeutischen Kompetenz. Betrachten wir jeden Aspekt einzeln.

Im täglichen Alltag erleben viele von uns, dass Politiker, Manager und Kassenangestellte längst die administrative Macht in der psychiatrischen Versorgung übernommen haben. Zwar gibt es in vielen Einrichtungen ärztliche Leiter oder gar Ärzte als Geschäftsführer. Deren Befugnis ist aber viel eingeschränkter als etwa bei Anstaltsleitern früherer Zeiten, z. B. von Gremien und Verwaltungschefs. Zudem bleibt offen, ob ärztliche Leiter überhaupt noch als Ärzte zu zählen sind, da sie häufig selbst bereits zu reinen Managern geworden sind und ihre ärztliche Identität im Sinne der täglichen Patientenversorgung in der Vergangenheit liegt.

Kommen wir zur Wissenschaft, deren Regeln sich in den letzten 30 Jahren grundlegend geändert haben. Als Folge eines zunehmenden, globalisierten Wettkampfs um Forschungsgelder und Impactfaktoren ist ein viel höherer Grad an Expertise und Spezialisierung erforderlich, um sich durchsetzen zu können. Zudem erweist sich Grundlagenforschung als besser publizierbar als angewandte klinische Forschung. Für die Psychiatrie, wie auch für andere Fächer in der Medizin, hat das 2 Konsequenzen: Zum einen sind Wissenschaftler mit Ausbildungen in Grundlagenfächern viel besser qualifiziert, innovative Konzepte und Methoden zu entwickeln und die Wissenschaft voranzutreiben. Zum anderen haben diejenigen Psychiater, die wirklich noch als Ärzte arbeiten, also täglich Patienten sehen und behandeln, praktisch kaum noch eine Chance, mit den Spezialisten mitzuhalten, die sich den ganzen Tag nur auf die Forschung konzentrieren. Das hat dazu geführt, dass selbst in psychiatrischen Zeitschriften die wissenschaftlich bedeutsamen Arbeiten zunehmend von Biologen, Psychologen, Epidemiologen und anderen Berufsgruppen, aber eben nicht mehr von Psychiatern führend publiziert werden.

Der 3. Aspekt, die klinische Kompetenz, ist wahrscheinlich am schwierigsten und sicherlich kontrovers. Die Kompetenz, die für Patienten relevant ist, liegt nicht in theoretischem Wissen um Ursachen, komplexe Zusammenhänge und diagnostische Feinheiten ohne therapeutische Konsequenzen. Was Patienten, und auch die Öffentlichkeit, primär interessiert, ist, ob wir ihnen helfen können, d. h. unsere konkreten therapeutischen Möglichkeiten. Aus meiner Sicht haben Psychiater sich hinsichtlich ihrer eigenen therapeutischen Fähigkeiten in unglückseliger Weise auf die Verschreibung von Medikamenten fokussiert und dabei selbst über die Zeit entqualifiziert. Was für diese Entwicklung entscheidend war, ist schwer zu klären, z. B. das Bestreben, anderen Medizinern gleich zu sein, die unsäglichen finanziellen Zuwendungen der Pharmaindustrie, die nicht nur Individuen korrumpieren, sondern auch Inhalte von Fortbildungen und Kongressen beeinflussen, oder schlicht eine defensive Abgrenzung der eigenen Rolle. Die genauen Gründe sind in diesem Zusammenhang auch unerheblich. Es bleibt, dass die Ärzte in der Psychiatrie den Zug verpasst haben, andere Kompetenzen voranzutreiben und zu ihren eigenen zu machen. Möglicherweise wäre dieses Manko weniger bedeutsam, wenn die Pharmakotherapie sich so fortentwickelt hätte, wie das vor 30 Jahren wohl viele gehofft hatten. Tatsächlich sind in dieser Zeit aber trotz einer größeren Auswahl kaum neue Medikamente auf den Markt gekommen, die der wissenschaftlichen Evidenz zufolge in ihrer therapeutischen Effektivität den damals zur Verfügung stehenden deutlich überlegen wären. Kaum eine andere spezialisierte Berufgruppe kann sich leisten, ihre Kompetenz auf einen Bereich mit so wenig Fortschritt aufzubauen.

Manch ein Leser mag hier protestieren und einwerfen, dass Psychiater ja auch eine psychotherapeutische Ausbildung sowie Kompetenzen in der Gesprächsführung und im Regeln des sozialen Umfeldes von Patienten haben. Stimmt, oft jedenfalls. In psychologischen Behandlungsverfahren sind viele klinische Psychologen aber schlichtweg viel besser ausgebildet (von anderen Aspekten wie neuropsychologischen Testverfahren im Übrigen gar nicht zu reden). Und in der Kommunikation mit Patienten und sozialen Interventionen mögen viele Ärzte sehr erfahren sein, systematisch ausgebildet sind sie nicht.

Und schließlich haben die Ärzte ihre frühere Dominanz auch im Verhältnis mit ihren Patienten – sowie z. T. auch deren Angehörigen – verloren. Das Arzt-Patienten-Verhältnis ist häufiger ein partnerschaftliches denn ein paternalistisches, und eine zunehmende Zahl von internetinformierten Patienten sucht den Ratschlag, aber nicht die Anordnung des Arztes.

Ärzte sind in der Psychiatrie sicher nicht bedeutungslos geworden. Als einzelne Berufsgruppe sind sie wahrscheinlich immer noch wichtiger als jede andere, obwohl Pflegekräfte wegen ihrer größeren Zahl und Psychologen wegen ihrer spezifischen Kompetenz anderer Meinung sein mögen. Dominieren Ärzte allein aber die gesamte Psychiatrie? Die Antwort ist wohl eher nein. Ob wir uns das wünschen oder für die Psychiatrie für günstig halten, ist eine andere Frage. Die zunehmende Bedeutung anderer Berufsgruppen kann für die Psychiatrie insgesamt und für ihre Patienten Vorteile haben, für Psychiater sollte es in jedem Fall ein Anlass sein, die eigene Rolle und Kompetenz zu überdenken. Die Dominanz in der Versorgungsgestaltung und Leitung von Einrichtungen ist sicher nicht zurückzuerobern. Eine beratende Funktion als Experte und eine Stimme innerhalb einer multiprofessionellen Gruppe sind vielleicht keine schlechte Alternative. In der Wissenschaft können Ärzte angesichts des zunehmenden Drucks zur Spezialisierung auch nicht mehr dominieren. Was sie aber beeinflussen können, ist ihre klinische Kompetenz. Sie können Aus-, Fort- und Weiterbildungen verändern und mit neuen Inhalten füllen. Ohne die Pharmakotherapie zu vergessen, können psychotherapeutische Ansätze, soziale Interventionen und die spezifische therapeutische Kommunikation mit psychisch kranken Patienten (auch und insbesondere außerhalb formaler Psychotherapie) stärker berücksichtigt werden [1]. Und darüber hinaus könnten Psychiater auch richtig und systematisch dafür ausgebildet werden, mit anderen Berufsgruppen und Patienten in einer nicht-dominanten Rolle optimal zusammenzuarbeiten und dabei eine zentrale integrative Funktion übernehmen.

Literatur

  • 1 Priebe S, McCabe R. Therapeutic relationships in psychiatry: The basis of therapy or therapy in itself?.  International Review of Psychiatry. 2008;  20 521-526
  • 2 Kandel E. A new intellectual framework for psychiatry.  Am J Psychiatry. 1998;  155 457-469
  • 3 Deutsche Kodierrichtlinien für die Psychiatrie und Psychosomatik. 2010
  • 4 Cuijpers P, van Straten A, van Oppen P. et al . Are psychological and pharmacologic interventions equally effective in the treatment of adult depressive disorders? A meta-analysis of comparative studies.  J Clin Psychiatry. 2008;  69 1675-1685; quiz 1839–1641 , Doi: DOI: ej07m04112 [pii]
  • 5 Keller M, McCullough J, Klein D. et al . A comparison of nefazodone, the cognitive behavioral-analysis system of psychotherapy, and their combination for the treatment of chronic depression.  N Engl J Med. 2000;  342 1462-1470
  • 6 Kocsis J, Gelenberg A, Rothbaum B. et al . Cognitive behavioral analysis system of psychotherapy and brief supportive psychotherapy for augmentation of antidepressant nonresponse in chronic depression: the REVAMP Trial.  Arch Gen Psychiatry. 2009;  66 1178-1188 , Doi: DOI: 66/11/1178 [pii]
10.1001/archgenpsychiatry.2009.144

Prof. Dr. Stefan Priebe

Queen Mary University of London
Academic Unit, Newham Centre for Mental Health

London E13 8SP, UK

Email: s.priebe@qmul.ac.uk

Prof. Dr. Markus Weih

Universitätsklinikum Erlangen
Psychiatrische und Psychotherapeutische Klinik

Schwabachanlage 6

91054 Erlangen

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