PiD - Psychotherapie im Dialog 2010; 11(2): 183-184
DOI: 10.1055/s-0030-1248473
Résumé

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Sorge und Hoffnung

Volker  Köllner, Barbara  Stein
Further Information

Publication History

Publication Date:
31 May 2010 (online)

Es ist wieder ein dickes PiD-Heft geworden, was für die Lebendigkeit des Praxis- und Forschungsfeldes Psychoonkologie spricht. Schon in der Standortbestimmung durch Andrea Schumacher wurde deutlich, wie differenziert das Versorgungsangebot für Tumorpatientinnen und -patienten in Deutschland sowohl im ambulanten und stationären Bereich als auch in der Rehabilitation sein kann. Leider stehen diese Möglichkeiten jedoch noch nicht flächendeckend all den Patientinnen und Patienten zur Verfügung, die ihrer eigentlich bedürften. Manchmal entstehen Angebote aber erst dann, wenn sie eingefordert werden. Insofern hoffen wir, dass unser Heft Ihnen bei der Beratung von Patienten mit Tumorerkrankungen (auch wenn sie ursprünglich wegen einer anderen Diagnose in Psychotherapie gekommen sind) hilft, dass diese sich für Behandlungszentren entscheiden, die psychoonkologische Angebote tatsächlich und nicht nur auf dem Papier vorhalten.

Die beiden Standpunkteartikel von Joachim Weis und Manfred Beutel greifen u. a. die Kontroverse auf „Wohin gehört die Psychoonkologie?” Ist sie eine Teildisziplin der Onkologie oder Aufgabe ärztlicher und psychologischer Psychotherapeuten in einem interdisziplinären Betreuungskonzept? In der täglichen Arbeit mit den Patientinnen und Patienten mag diese Frage nebensächlich erscheinen, für die Zukunft der „Psych-Fächer” ist sie von entscheidender Bedeutung. Geht die Entwicklung hin zu immer mehr Subdisziplinen wie Psychoonkologie, Psychokardiologie, Psychodiabetologie, Psychotraumatologie …? Und welche Konsequenzen hätte diese Entwicklung? Zweifellos ist störungsspezifisches Wissen erforderlich und ständige Weiterbildung in einer Zeit des sich immer schneller erneuernden medizinischen Wissens Pflicht. Aber wo ist der Punkt erreicht, an dem die vielen unterschiedlichen „Psycho-Bereiche” für die Patienten völlig unübersichtlich werden und wann ist ein Zertifikat nicht mehr inhaltlich sinnvoll, sondern eher anderen Interessen geschuldet? Und welchen Stellenwert haben die psychotherapeutischen Basisfertigkeiten gegenüber dem Spezialwissen? Psychotherapiestudien betonen jedenfalls den größeren Stellenwert der Basisvariablen gegenüber störungsspezifischen Aspekten oder Techniken (Grawe 2004).

In diesem Zusammenhang ist noch ein anderer Aspekt relevant: Die Anästhesie konnte sich als eigenes Fach erst entwickeln und ihren heutigen hohen Standard erreichen, als man davon wegkam, dass sich jede einzelne operative Disziplin ihren eigenen Narkosearzt hielt und sich die Anästhesisten in ihrer eigenen Klinik und ihrem eigenen Fachgebiet fanden. Insofern stellt sich die Frage, wohin eine Auflösung der Psychosomatischen Medizin und der Klinischen Psychologie in zu den jeweiligen medizinischen Fachgebieten gehörenden „Psycho-Spezialisten” führen würde. Andererseits ist festzustellen, dass der Organbezug in Psychoonkologie oder Psychokardiologie für einen Teil der Patienten möglicherweise als Türöffner wirkt und es ihnen erleichtert, psychotherapeutische Angebote anzunehmen. Und es lässt sich auch nicht leugnen, dass die Verselbstständigung den Fortschritt in der Psychoonkologie selbst eher beschleunigt als gebremst hat. Möglicherweise hat man in den Mutterdisziplinen Psychosomatik und Klinische Psychologie zeitweise zu wenig auf die Entwicklungen und Bedürfnisse der jeweiligen somatischen Partnerdisziplinen geachtet.

Hoffnung macht das im Hauptteil des Heftes beschriebene breite Repertoire psychotherapeutischer Unterstützungs- und Therapiemöglichkeiten für Krebspatienten: die Psychoedukation (Ulrike Heckel et al.), Entspannungsverfahren und Imagination (Hansjörg Ebel und Winfried Häuser) sowie supportiv-expressive Gruppentherapie (Katrin Reuter). Eine wichtige Möglichkeit, depressive Symptome zu lindern, das Gefühl von Selbstwirksamkeit zu erhöhen und für viele Krebspatienten sehr belastende Symptome der chronischen Müdigkeit zu reduzieren, stellen körperliche Aktivität und Trainingstherapie dar. In der Rubrik „Forschung für die Praxis” stellt Gerhard Huber ein Programm zur Steigerung körperlicher Aktivität für Patientinnen mit Brustkrebs vor. Immer noch wird in der Psychotherapie reflexartig an Entspannungsverfahren und zu wenig an körperliche Aktivität gedacht. Insofern ist der Beitrag von Huber eine deutliche Aufforderung zum Umdenken.

Neue Entwicklungen in der Biomedizin können auch neue Herausforderungen und Aufgaben für die psychosozialen Fächer mitsichbringen. Ein solches beschreibt Monika Keller: Die Möglichkeit, ein deutlicher erhöhtes Krebsrisiko mittels genetischer Diagnostik lange vor Ausbruch der Erkrankung festzustellen, bietet die Möglichkeit für Früherkennung und bessere Heilungschancen – löst aber natürlich auch Ängste und Entscheidungskonflikte aus. Hier hat sich ein familienorientierter Beratungsansatz bewährt.

Niemand ist alleine krank – Studien zeigen, dass die Angehörigen von Krebspatienten häufig ebenso belastet sind, wie die Patientinnen und Patienten selbst. In einem weiteren Forschungsbeitrag beschreiben Röder et al. sowohl die psychische Belastung von Partnerinnen und Partnern von Krebspatienten als auch den Einfluss des seelischen Befindens der Partner auf die Krankheitsverarbeitung. Insofern kann die systemische Familienmedizin – dargestellt von Askan Hendrischke – die Chance einer Integration der Familienperspektive in die psychoonkologische Diagnostik und Behandlung ermöglichen.

Eine besondere Problemgruppe stellen Kinder krebskranker Eltern dar. Miriam Komo-Lang et al. beschreiben ein deutschlandweites Verbundprojekt, das ein Beratungsangebot für betroffene Familien in der Zukunft möglichst flächendeckend etablieren soll. Für einen der Herausgeber (V. K.) hatte dieser Artikel eine besondere Bedeutung: Als der eigene Vater vor über 40 Jahren an Krebs verstarb, konnte man das Wort Psychoonkologie noch nicht einmal buchstabieren – Patient und Familie waren mit niederschmetternden Prognosen, Hoffnung auf die Wirksamkeit teurer Therapien und deren Scheitern alleine gelassen. Wenn man nun aus heutiger Sicht die Versorgungslandschaft überblickt, fällt zunächst auf, was alles noch verbessert werden könnte – die Zeitperspektive ermöglicht jedoch den Blick darauf, was inzwischen aufgebaut wurde und an Unterstützung möglich ist.

Keine Therapie ohne Diagnostik – dies gilt in besonderem Maße für die Psychoonkologie, denn häufig werden depressive Störungen oder Ängste gar nicht erst erkannt. Psychosoziale Unterstützung wird dann viel zu spät oder gar nicht angeboten. Nationale und internationale Leitlinien fordern deshalb zunehmend ein kontinuierliches Screening. Geeignete Verfahren stellt Anja Mehnert in ihrem Artikel vor.

Eine besondere Bedeutung für die Bewältigung der Krebserkrankung haben die Vorstellungen des Patienten über die Ursachen seiner Erkrankung – z. B. eigene Schuld, Schicksal oder Herausforderung? Gerade eine schuldhafte Verarbeitung kann die Lebensqualität der Patienten deutlich verschlechtern. Dieser Aspekt wurde von Herrmann Faller und Matthias Jelitte beschrieben. Nicht nur für die behandelnden Ärztinnen und Ärzte ist es wichtig, die subjektive Krankheitstheorie ihrer Patienten zu kennen, sie ist nicht selten auch Ausgangspunkt einer psychotherapeutischen Intervention. Deren Grundlagen werden von Wolfgang Söllner sowie Kurt Fritzsche und Tanja Gölz aufgezeigt. Die Idee einer Krebspersönlichkeit kann nach dem bisherigen Stand der Forschung getrost ad acta gelegt werden und auch der Einfluss psychischer Variablen wie Depressivität auf Erkrankungsrisiko und Überleben der Patienten ist deutlich geringer als z. B. bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Dementsprechend konnte eine Lebensverlängerung bei Krebspatienten durch Psychotherapie bisher nicht überzeugend nachgewiesen werden.

Ein Grund, enttäuscht zu sein? Vielleicht ein wenig, denn es wäre natürlich besser, den Betroffenen hier mehr bieten zu können. Andererseits sollten wir Psychotherapeuten uns vor Allmachtsfantasien schützen, denn in ihnen liegt die Gefahr, das, was möglich ist, gering zu schätzen. Auch in der Organmedizin wird vieles mit dem Ziel gemacht, die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern, auch wenn klar ist, dass sich hierdurch die Überlebenszeit nicht verlängert. Und letztlich bleibt der Tod eine Tatsache, die wir akzeptieren müssen – da helfen weder Hightechmedizin noch Psychotherapie. Insofern ist die Möglichkeit, den Betroffenen und ihren Familien dabei zu helfen, Angst und Verzweiflung zu überwinden sowie neue Lebensperspektiven und Freiheitsgrade zu gewinnen, eigentlich eine gute Perspektive, die es auch für Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten lohnend erscheinen lässt, mit Tumorpatienten zu arbeiten.

Noch ein weiterer Punkt sei kritisch angemerkt: Das aus der Herz-Kreislauf-Forschung übernommene Konzept des „unabhängigen Risikofaktors” ist möglicherweise zu monokausal gedacht und zu kurz gegriffen. Wenn jeder Risikofaktor statistisch isoliert betrachtet wird, fallen Vernetzungen aus dem Blickfeld. Sicherlich ist der Einfluss von Gesundheitsverhalten (vor allem Rauchen) auf die Entstehung und die Prognose von Krebserkrankungen deutlich größer als die der Depressivität und anderer psychosozialer Variablen. Felitti (1998) hat uns mit seinen Forschungsergebnissen aber gelehrt, wie entscheidend frühe Bindungserfahrungen für einen fürsorglichen Umgang mit uns selbst sind. Insofern ist der Einfluss psychischer und sozialer Faktoren möglicherweise doch größer, als es eine monokausale Betrachtungsweise erscheinen lässt.

Zurück auf den Boden der Versorgungsrealität führen uns Ulrich Rüger und Jochen Sturm mit ihren wichtigen Beiträgen zur Behandlung von Krebspatienten im Rahmen der Richtlinienpsychotherapie. Beide weisen darauf hin, dass Krebs alleine keine Psychotherapieindikation darstellt und dass es gilt, zunächst die niedrigschwelligen und auch kurzfristig verfügbaren Möglichkeiten der psychoonkologischen Versorgung zu nutzen. Ebenso stellen aber beide klar, dass bei einer erheblichen Anzahl der Krebspatienten eine psychische Komorbidität vorliegt, die sehr wohl eine Psychotherapieindikation darstellt. Hier geben sie wertvolle Hinweise zur Gestaltung von Kassenanträgen.

Mehr passt nun wirklich nicht in den Einband eines PiD-Heftes – trotzdem fehlen zwei wesentliche Aspekte: die Patienten- und die Behandlerperspektive. Diesen soll in der Rubrik „Im Dialog” sowohl in den nächsten Heften als auch im Internet Raum gegeben werden. In Vorbereitung sind Interviews sowohl mit Patientinnen, Psychoonkologen als auch Onkologen. Wir würden uns sehr freuen, wenn unser Heft auch im Kreis der Leserinnen und Leser eine Diskussion anstoßen würde.

Literatur

  • 1 Felitti V J, Andra R F, Nordenberg D. et al . Relationship of childhood abuse and household dysfunction to many of leading courses of death in adults. The Adverse Childhood Experiences (ACE) Study.  Am J Prev Med. 1998;  14 245-258
  • 2 Grawe K. Neuropsychotherapie. Göttingen; Hogrefe 2004: 420-423
    >