PiD - Psychotherapie im Dialog 2010; 11(2): 105-106
DOI: 10.1055/s-0030-1248454
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

„Und plötzlich streicht der Tod ums Haus”

Barbara  Stein, Volker  Köllner
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Publication Date:
31 May 2010 (online)

Alle 80 Sekunden wird eine Krebserkrankung erstmalig diagnostiziert. Jährlich erkranken ca. 450 000 Menschen in Deutschland an Krebs – Tendenz steigend, da das Risiko, an Krebs zu erkranken, mit steigendem Alter zunimmt und die deutsche Bevölkerung immer älter wird. Das Robert Koch-Institut in Berlin verzeichnet 1,4 Millionen Krebskranke, deren Diagnosestellung nicht länger als fünf Jahre zurückliegt. Jeder dritte Deutsche erkrankt im Laufe seines Lebens an Krebs, es gibt zurzeit weit mehr als fünf Millionen Deutsche, die im Lauf ihres Lebens mit einer Krebsdiagnose konfrontiert wurden.

Nach den Herz-Kreislauf-Erkrankungen ist Krebs zwar die zweithäufigste Todesursache, dennoch ist nicht jede Krebserkrankung tödlich. Die derzeitige Heilungsrate über alle Krebsarten gerechnet beträgt durchschnittlich 30–40 %, abhängig von der Art der Krebserkrankung – auch hier Tendenz steigend. Das heißt, jeder zweite Krebserkrankte wird an dieser Erkrankung sterben. Das heißt aber auch, dass in Deutschland zunehmend mehr Menschen eine Krebserkrankung überlebt haben: Menschen, die sich mit der existenziellen Erschütterung durch die Krebserkrankung, mit der Behandlung und ihren Folgen, mit der ständigen Bedrohung durch ein potenzielles Rezidiv auseinandersetzen müssen; die ihre Krankheitserfahrung in ihr Leben integrieren müssen; und die psychotherapeutische, psychoonkologische Unterstützung suchen.

Die statistischen Zahlen sagen natürlich nichts über das Erleben und Bewältigen einer Krebserkrankung aus. Was bewegt diese Menschen? Welche seelischen Folgen haben eine Krebserkrankung und ihre Behandlung? Die Diagnose einer Krebserkrankung löst Schock, Angst, Ungläubigkeit und Entsetzen bei vielen Betroffenen und ihren Angehörigen aus. Krebskrank zu sein wird immer noch meist verbunden mit Bildern wie Leid, Siechtum, Schmerzen, Haarlosigkeit, Verstümmelung und Sterben. Nichts ist mehr so, wie es früher war. Das Vertrauen in die Zuverlässigkeit des eigenen Körpers und in die eigene Zukunft ist zumindest erst mal zerstört. „Diese unbedarfte, unbeschwerte Freude, die man früher hatte, die ist natürlich weg. Die kommt wahrscheinlich auch nicht wieder und trotzdem gibt es Momente, in denen man sich freut.” So Christoph Schlingensief in seinem Tagebuch über seine Krebserkrankung (2009, S. 59).

Es gibt eine Vielzahl von berührenden Publikationen in unterschiedlichen Medienformen, in denen Krebsbetroffene dem Interessierten einen Einblick in das Leben und Leiden mit Krebs erlauben. Eines der ersten und wohl mit am bekanntesten ist das Buch von Fritz Zorn „Mars”, 1977 erschienen. Hinter dem Pseudonym verbirgt sich ein 30-jähriger Mann, der an seiner Krebserkrankung verstirbt. Furore machte dieses Werk, da der Autor seine Krebserkrankung als eine logische Folge seiner neurotischen Strukturen sah, somit ein psychogenetisches Konzept seiner Erkrankung vorstellt. Viele Patienten berichten, dass sie chronische Überforderungssituationen, verdrängten Ärger oder schmerzliche Trennungserfahrungen als Ursache der Krebsentstehung ansehen. „Warum gerade ich?” – diese Frage stellt jede / jeder Betroffene / r sich und auch dem Behandler. Damit schwingt auch die Frage nach einer möglichen Schuld mit: eigene Schuld und damit assoziiert auch Scham (z. B. über eigenes potenziell tumorförderndes Verhalten) oder die Zuweisung der Schuld zu einem anderen, z. B. dem ablehnenden Partner oder auch dem Arzt, der die Erkrankung nicht frühzeitig erkannte. In dem Zusammenhang stand auch das Konzept der sog. „Krebspersönlichkeit”, das erfreulicherweise zunehmend in den Hintergrund gerät.

Obwohl monokausale psychogenetische Konzepte wissenschaftlich nicht haltbar sind, sind die damit verknüpften Erklärungsmodelle für die Patienten von großer Bedeutung. Subjektive Krankheitstheorien sind auf individueller Ebene sinnstiftend und haltgebend, da sie eine Erklärung für das Unerklärliche bieten und somit auch Kontrolle und Distanzierung von dem destruktiven Prozess ermöglichen. Es ist für den begleitenden Psychoonkologen und auch für den Onkologen wichtig, das subjektive Erklärungskonzept ihres Patienten zu kennen, da es sich auf den Behandlungsverlauf, das psychische Befinden, die Compliance usw. auswirkt.

Wie unterschiedlich diese Konzepte und dementsprechend auch die Anpassungsprozesse sein können, zeigt das 2009 erschienene Buch „Heute bin ich blond” der Niederländerin Sophie van der Stap, das als Gegenstück zu „Mars” gelten kann. Sie nutzt ihre chemobedingte Kahlköpfigkeit, um mit neun verschiedenen Perücken unterschiedliche Facetten ihrer Persönlichkeit auszuprobieren. Anfänglich dienen die Perücken zum Versteck ihrer stigmatisierenden Glatze, aber auch zum teilweise lustvollen Versteckspiel. Sich selbst hinter den Perücken wiederzufinden – und damit in ein Leben nach Krebs zu finden – beschreibt sie als schmerzhaften Ablöseprozess, der ihr jedoch ihr schriftstellerisches Talent offenbart: „Heute fühle ich mich mit der jungen Frau von damals am meisten verbunden durch das, was meine Krankheit mir geschenkt hat: die Schriftstellerei” (S. 253).

Alle psychosozialen Faktoren im Umfeld einer Krebserkrankung umfasst die Psychoonkologie, die sich als eigenständiges Praxis- und Forschungsfeld erst vor weniger als 30 Jahren etabliert hat. Die Psychoonkologie ist ein weites Feld. Während anfänglich eher psychogenetische Überlegungen im Mittelpunkt standen, hat sich nun der Fokus auf psychosoziale Prozesse und die Entwicklung von Versorgungsansätzen verschoben. Nicht nur der Patient, sondern auch seine Angehörigen und die behandelnden Ärzte und Pflegepersonen stehen im Fokus. Unterdessen ist allgemein akzeptiert, dass Krebspatienten eine psychoonkologische Unterstützung zumindest angeboten werden soll. Zunehmend wird sie von Patienten auch eingefordert. Dies wirkt sich auf die Versorgungsstrukturen aus: So muss psychoonkologische Kompetenz bei der Zertifizierung von Tumorzentren nachgewiesen werden, eine onkologische Rehabilitationsklinik ohne psychoonkologisches Angebot wäre undenkbar, im ambulanten Bereich wurden Krebsberatungsstellen eingerichtet. Das Netz der Selbsthilfegruppen ist im Bereich der Onkologie im Vergleich zu anderen Erkrankungen enger geknüpft.

Trotz der Implementierung psychoonkologischer Versorgungsstrukturen klagen viele Patienten, dass sie mit der Diagnose Krebs alleingelassen wurden und dass sie keine Unterstützung in den notwendigen Anpassungsprozessen gefunden hätten. Schlingensief beschreibt dies so (S. 87): „Und man merkt, was für eine Hilflosigkeit in diesem Gesundheitssystem steckt. Weil die Menschen nicht nur alleingelassen werden mit ihren Ängsten, sondern auch statisch gemacht werden in ihrer Verzweiflung. Sie bekommen mitgeteilt, dass sie krank sind und geraten dann in einen Prozess, der sie völlig entmündigt. Nicht die Krankheit ist das Leiden, sondern der Kranke leidet, weil er nicht fähig ist zu reagieren, weil er nicht die Möglichkeit hat, mitzumachen. Er ist dem System ausgeliefert, weil niemand in diesem System bereit ist, ernsthaft mit ihm zu sprechen. Klar: Diagnose, Prognose, Therapie, es wird beinhart aufgeklärt, aber wirklich miteinander gesprochen wird nicht. Dabei könnte man allein dadurch helfen, dass man mit den Menschen spricht, zu Gedanken animiert oder nach Ängsten und Wünschen fragt.”

Mag noch in größeren Zentren der Akutversorgung ein psychologischer Dienst vorhanden sein, der auf die Berücksichtigung psychosozialer Aspekte hinweisen kann, so ist dies in kleineren Krankenhäusern nicht gewährleistet. Noch schwieriger wird es, wenn die Primärbehandlung abgeschlossen ist und der Patient, u. a. angeregt durch eine als befriedigend erlebte psychoonkologische Unterstützung in der Reha-Klinik, eine ambulante psychoonkologische Weiterbehandlung sucht. Patienten berichten, dass sie große Schwierigkeiten hätten, einen ambulanten Psychotherapieplatz zu finden, und das nicht nur, aber dann verstärkt, während der onkologischen Akutphase. Niedergelassene Psychotherapeuten scheuen häufig vor der psychotherapeutischen Begleitung von Krebserkrankten zurück oder limitieren die Anzahl der Behandlungsplätze für Onkologiepatienten in ihrer Praxis. Einige Gründe mögen gegen die Psychotherapie mit einem Krebspatienten sprechen. Die erforderliche Flexibilität durch die Behandlungen im Akutkrankenhaus oder durch unerwartete Komplikationen ist nicht so einfach mit der Organisationsstruktur einer niedergelassenen Praxis zu vereinbaren.

Für viele Patienten ist die Zeit nach abgeschlossener Behandlung der Zeitpunkt, wo sie zum ersten Mal wieder inneren Freiraum haben, sich um die seelische Verarbeitung der Krankheit und ihrer Folgen zu kümmern. Vorher erforderte die Behandlung selbst alle Ressourcen, der gedankliche und emotionale Fokus zielte auf die Beendigung der Behandlung, weniger auf das Leben nach der Behandlung. Die spezifischen psychoonkologischen Problemstellungen sind häufig eine Herausforderung für den Psychotherapeuten, der innerhalb des Richtlinienverfahrens arbeitet, da dafür eine psychische Störung diagnostiziert werden und ein dementsprechender Behandlungsplan entwickelt werden muss. Hier streiten sich auch die Vertreter der Psychoonkologie: Sind Krebspatienten Psychotherapiepatienten, wenn sie psychoonkologische Unterstützung erfahren? Oder sollte sich die Psychoonkologie nicht als eigenständige Disziplin begreifen, die u. a. auf psychotherapeutische Elemente zurückgreift, aber eben auch Beratungselemente, pädagogische Aspekte etc. beinhaltet – und in dem Unterstützung nachsuchenden Onkologiepatienten eher einen Klienten sieht und damit eine Psychopathologisierung des Life-Events Krebs vermeidet?

Als der Vater einer Mitschülerin an Krebs erkrankte, fragte die 9-jährige Tochter der Herausgeberin (B.S.), ob Krebs ansteckend sei. Wiewohl diese Frage natürlich verneint werden muss, so scheint doch die Angst, die in Zusammenhang mit einer Krebserkrankung auftritt, ansteckend zu sein. Dies könnte auch eine Erklärung sein, warum es für Krebspatienten manchmal schwierig ist, ein offenes Ohr und eine haltgebende Begleitung durch den Dschungel der Ängste, Todesängste zu finden. Die Begleitung eines Krebspatienten berührt uns in unseren eigenen existenziellen Fragen nach dem Tod, nach dem Sterben und natürlich auch nach dem Leben, nach den Wünschen an unser Leben. Daher erfordert die psychotherapeutische Begleitung einen ständigen Distanzierungsprozess, eine hohe Anforderung an das Aushalten sowohl der Ängste und Sorgen der Patienten als auch das Aushalten unserer Angst vor einer eigenen Erkrankung und unserer Angst vor unserem eigenen Sterbensprozess.

Dass Patienten von einer gezielten psychoonkologischen Unterstützung in dieser schwierigen Lebensphase profitieren können, ist gesichert. Nichtsdestotrotz gibt es im Hinblick auf die psychoonkologische Versorgung eine Reihe von Fragen: Welcher Patient braucht welche psychoonkologische Unterstützung? Welche psychoonkologischen Therapieangebote haben sich bewährt und sind effektiv? Was erwarten und erhoffen sich Krebspatienten von einer psychoonkologischen Begleitung? Ist es nicht nur ein Wunschdenken des Patienten (und evtl. auch des Psychotherapeuten), dass Psychotherapie die Lebenszeit verlängert? In welcher Phase braucht ein Patient psychoonkologische Unterstützung? Wie können die Partner, Kinder oder Eltern von Krebspatienten in dieser Lebenssituation unterstützt werden?

Liebe LeserInnen, Sie sehen also, es ist höchste Zeit, diesem interessanten und vielschichtigen Thema Psychoonkologie ein eigenes Schwerpunktheft der PiD zu widmen. Wir haben versucht, Antworten für die oben aufgerissenen Fragen zu finden, dabei jedoch feststellen müssen, dass in der Diskussion um dieses Heft neue Fragen aufgetaucht sind und wir uns auch aus Platzgründen bescheiden mussten. Wir möchten mit diesem Heft einen tieferen Einblick in einige Bereiche der Psychoonkologie vermitteln und Mut machen für die Begleitung von Patienten, die an Krebs erkrankt sind oder waren.

Literatur

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