Gesundheitswesen 2010; 72(3): 129-134
DOI: 10.1055/s-0030-1247580
Originalarbeit

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Solidaritäten im Wandel von Gesellschaft und Gesundheitswesen

Solidarity in the Course of Society and Health-Care SystemA. Trojan1
  • 1Zentrum für Psychosoziale Medizin, Institut für Medizin-Soziologie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg
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Publication Date:
19 March 2010 (online)

Ich habe mir das Ziel gesetzt, Sie in dem folgenden Beitrag in das Tagungsthema „Solidaritäten” einzuführen. Am Ende will ich kurz auf die Frage eingehen, wie nahe wir uns mit diesem Thema dem Leben und Wirken Salomon Neumanns fühlen dürfen.

Unser Tagungsthema haben wir sehr bewusst gewählt, um Aufmerksamkeit, größere Aufmerksamkeit für Solidarität als gesellschaftlichen Wert, als Organisationsprinzip und als politisches Konzept zu erzeugen.

„Solidaritäten im Wandel” – diese Überschrift sollte zwei große Themenbereiche unserer Tagung ansprechen:

die Bedrohungen, Gefährdungen von Solidarität in Zeiten globaler Krisen, aber auch die „wohltuenden”, Gemeinwohl fördernden Potenziale von Solidarität, sozusagen als Heilmittel in ebendiesen Krisenzeiten.

Persönlich und inhaltlich hat mich dieses Thema schon seit vielen Jahren bewegt, – unter der Überschrift „Solidarität” jedoch seit erst ca. 5 Jahren. So lange etwa wird das Thema von einer Gruppe von Gesundheitswissenschaftlern aus unterschiedlichen Disziplinen explizit als Gegenkonzept auf die Tagesordnung gesetzt, als Gegenkonzept zum „Markt” als dem heute alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringenden Organisationskonzept.

„Markt vs. Solidarität”, „Medizin und Gewissen zwischen Markt und Solidarität” und zuletzt „Solidarität statt Markt” – das sind die Titel von drei Veranstaltungen seit 2004, die zugleich die Bedrohung von Solidarität durch den Markt und Solidarität als heilsames Prinzip gegen negative Kräfte des Marktes beleuchtet haben.

Obwohl viele von Ihnen diese Veranstaltungen kennen oder sogar daran mitgewirkt haben, war der Kontext der drei Tagungen primär kein wissenschaftlicher, sondern hat einen ärztlichen und politischen Hintergrund: Die erste Veranstaltung entstand anlässlich des 65. Geburtstags des Medizin-Soziologen Ulrich Deppe in Frankfurt 2004 (organisiert von Kolleginnen/Kollegen und politischen Mitstreitern), die zweite war der Kongress der Ärzte gegen Atomkrieg (IPPNW) 2006 und die dritte die Jahresversammlung des Vereins demokratischer Ärztinnen und Ärzte 2008.

An dieser Stelle möchte ich schon ein erstes Mal darauf hinweisen: Genau dies, Arzt sein und politisches Engagement, ist auch der Kontext und Geist, aus dem Salomon Neumann geschrieben und gehandelt hat. In seiner berühmten Reformschrift von 1847 kritisiert er die Zuordnung der Ärzte zu den Gewerbetreibenden und reflektiert, verblüffend passgenau, für einige Aspekte der heutigen Überformung des Gesundheitswesens durch den Markt (Zitat):

„ … Indem der Staat den Ärzten die Heilkunst als Gewerbe anweist, macht er selbst (der Staat) den Egoismus zur ursächlichen Bedingung der ärztlichen Tätigkeit … Geld ist vom Staate zur Triebfeder der ärztlichen Tätigkeit gestempelt worden, Geld ist und muss also das Ziel der gewerbetreibenden Ärzte sein …” [1].

Tatsächlich kritisiert Salomon Neumann hier, was auch auf den genannten Tagungen zentral thematisiert wurde: Wenn Geld zum primären Handlungsmotiv wird, also eine ökonomische Logik über eine Logik der Humanität und Solidarität gestellt wird, dann sind Fehlsteuerungen vorprogrammiert, die sich sowohl auf die Gesundheit des Einzelnen als auch auf die Gesundheit der Gesellschaft negativ auswirken.

Soweit meine kurze Rückschau auf die Hintergründe der Themenwahl des diesjährigen Kongresses, aber auch schon ein erster Blick darauf, wie nahe wir uns mit unserer Tagung dem verehrten Vor-Vater Salomon Neumann, der oft als „Vater der sozialen Medizin” bezeichnet wurde [2] fühlen dürfen.

Literatur

  • 1 Baader G. Salomon Neumann.. In: Treue W, Winaur, Hrsg. Berlinische Lebensbilder: Mediziner. Berlin: Colloquium Verlag; 1987: 151-174
  • 2 Siegmann E. Salomon Neumann und die Sozialmedizin.. Inauguraldissertation der Medizinischen Fakultät Ruhr-Universität Bochum; 1988
  • 3 Saner H. Hat sich vielleicht jemand übernommen: Zur Stiftung für Solidarität.. In: Saner H Nicht-optimale Strategien. Essays zur Politik; 2002: 31-46
  • 4 Mau S. Europäische Solidaritäten.  Aus Politik und Zeitgeschichte. 2008;  Heft (21) 9-14
  • 5 BMAS (Bundesministerium für Arbeit und Soziales). .Lebenslagen in Deutschland. Der 3. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung.. Berlin: Eigenverlag; 2008
  • 6 OECD, .Hrsg Growing unequal. Income Distribution and Poverty in OECD-Countries.. Paris: Eigenverlag; 2008
  • 7 Bude H. Die Ausgeschlossenen. Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft.. München: Carl Hanser Verlag; 2008
  • 8 Heitmeyer W. Moralisch abwärts im Aufschwung. Nützlichkeit und Effizienz – dieses Denken ist weit verbreitet und bedroht den Zusammenhalt der Gesellschaft.  Ein Forschungsbericht. Die Zeit, Nr. 51 vom 13.12.2007
  • 9 Pietschmann H. Die Atomisierung der Gesellschaft.. Wien: Ibera Verlag; 2009
  • 10 Bonde I. u. a. Hrsg Medizin und Gewissen – zwischen Markt und Solidarität.. Frankfurt/Main: Mabuse-Verlag; 2008
  • 11 Elsner Elsner G, Gerlinger T, Steegmüller K. Hrsg Markt vs. Solidarität.. Hamburg: VSA-Verlag; 2004
  • 12 Glück A, Vogel B, Zehetmaier H. Hrsg Solidarische Leistungsgesellschaft. Eine Alternative zu Wohlfahrtsstaat und Ellenbogengesellschaft.. Freiburg u. a.: Herder; 2006
  • 13 Nell-Breuning O. Unsere Verantwortung. Für eine solidarische Gesellschaft.. Freiburg u. a.: Herder; 1987
  • 14 Galbraith JK. Die Solidarische Gesellschaft. Plädoyer für eine moderne soziale Marktwirtschaft.. Hamburg: Hoffmann und Campe; 1998
  • 15 Sen A. Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft.. München: Deutscher Taschenbuchverlag; 2002
  • 16 Layard R. Die Glückliche Gesellschaft.. Frankfurt: Campus-Verlag; 2005
  • 17 Voß E. Solidarische Ökonomie. Wirtschaftliche Selbsthilfe im Wandel.. Neu-Ulm: AG SPAK Bücher; 2009
  • 18 Lessenich S. Die Neuerfindung des Sozialen. Der Sozialstaat im flexiblen Kapitalismus.. Bielefeld. Transkript Verlag; 2008
  • 19 Dallinger U. Die Solidarität der modernen Gesellschaft. Der Diskurs um rationale oder normative Ordnung in Sozialtheorie und Soziologie des Wohlfahrtsstaats.. Wiesbaden: VS-Verlag; 2009
  • 20 Richter HE. Lernziel Solidarität.. Hamburg: Rowohlt; 1974
  • 21 Richter A, Wächter M. Zum Zusammenhang von Nachbarschaft und Gesundheit. Forschung und Praxis der Gesundheitsförderung Band 36.. Köln: Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung; 2009
  • 22 Dörner K. Leben und Sterben, wo ich hingehöre. Dritter Sozialraum und neues Hilfesytem.. Neumünster. Paranus-Verlag; 2007
  • 23 Legewie H. Welche Zukunft hat die Gemeinde? Vortrag auf der Tagung der deutsch-polnischen Gesellschaft für seelische Gesundheit.  1.–4. 10.2009 in Lublin
  • 24 Obama B. Community Organizing.  Illinois Issues (zitiert nach Tagesspiegel Berlin vom 19.01.2009, übersetzt von Jonas Flötotto und Herbert Scheerer)
  • 25 Hundertmark-Mayer J. Selbsthilfe in Internet-Formen, Wert und Wirkung.  NAKOS INFO. 2009;  ((100)) 6-17
  • 26 Alscher M. u. a. Handeln für das Gemeinwohl. Eine differenzierte Bilanz bürgerschaftlichen Engagements.  WZB-Mitteilungen Nr. 125, September 2009;  36-39
  • 27 Anheier KH. u. a Zivilgesellschaft und Freiwilliges Engagement in Europa.. Stuttgart: Eigenverlag; 2009: 108-111
  • 28 Nationales Forum für Engagement und Partizipation. .Erster Zwischenbericht.. Herausgegeben vom Bundesnetzwerk bürgerschaftliches Engagement (BBE) Berlin; 2009
  • 29 Neumann S. Die Öffentliche Gesundheitspflege und das Eigentum. Kritisches und Positives mit Bezug auf die preußische Medizinalverfassungs-Frage.. Berlin: Adolph Rieß; 1847
  • 30 Neumann S. Zur Öffentlichen Gesundheitspflege.. Erster Artikel. Schmidt's: Jahrbücher der In- und Ausländischen Gesamten Medizin. Leipzig; 1854: 98-105
  • 31 Kaerbe KH. Zur Geschichte des Berliner Gesundheitspflegevereins der Deutschen Arbeiterverbrüderung (1. Teil).  Deutsches Gesundheitswesen. 1973;  28 ((34)) 1621-1625
  • 32 Alber J. Die Ligaturen der Gesellschaft.. In memoriam Ralf Dahrendorf: Ein persönlicher Rückblick. WZB-Mitteilungen Nr. 125, September; 2009: 46-49

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Prof. Dr. Dr. A. Trojan

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