Balint Journal 2010; 11(3): 76-82
DOI: 10.1055/s-0030-1247342
Originalarbeit

© Georg Thieme Verlag Stuttgart ˙ New York

Scham Hören in Psychotherapie – ein intersubjektiver Ansatz[1]

Hearing Shame in Psychotherapy – An Intersubjective ApproachR. C. Ware
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
01. September 2010 (online)

Zusammenfassung

Schamkonflikte gehören zu den am meisten abgewehrten Konflikten eines jeden Menschen. Um die unsäglichen, unaussprechlichen Affekte seines Therapiepartners gefühlsmäßig zu verstehen, ist der Analytiker auf die spiegelnde Resonanz ­seiner eigenen Scham, Scham-Angst und Be­schämungsgeschichte angewiesen. Die Beschämungsnotlage des Gegenübers bringt die eigenen Scham­erfahrungen zum Erklingen. Er muss in teils wortlosen körperlich-emotionalen Interaktionen stereophon über zwei Kanäle zuhören. Zur Korrektur früher Beziehungserfahrungen inkongruenter Spiegelung in der Vorgeschichte brauchen Patienten häufig nicht so sehr Empathie mit ihrem Leiden als vielmehr die Resonanz eines abgegrenzten, auf sie und ihr Gefühl bezogenen ­Anderen. Die Scham seines Gegenübers kann der Therapeut oft am besten schützen und Entwicklung fördern, indem er wie ein Resonanzboden ­eigene Schamgefühle und -erlebnisse intersubjektiv anklingen lässt. 

Abstract

Shame conflicts are among the most avoided of all psychic conflicts. In order to understand the unspeakable and often inexpressible affects of his therapy partner, the therapist must listen both to the patient and especially to the resonance of his own shame, shame-anxiety and personal history of shame-experiences. The shame-plight of the one resonates in and constellates the shame-experiences of the other. He must develop a capacity for two-channel stereophonic listening. In order to correct relational experiences of incongruent mirroring in their history patients often need moe than the therapist’s empathy with their plight the resonance of a self-contained person who responds to their needs by mirroring from the depth of his own feeling reactions. A therapist can often best protect the shame of his counterpart by providing him / her with a sounding board of his own subjective shame feelings and experiences. 

1 Überarbeitete Fassung eines Vortrages am 18.07.2009 an der Wendelstein Klinik in 72501 Gammertingen.

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1 Überarbeitete Fassung eines Vortrages am 18.07.2009 an der Wendelstein Klinik in 72501 Gammertingen.

2 Mit C. G. Jung gesprochen: „Jeder Psychotherapeut hat nicht nur seine Methode: er selber ist sie. […] Der große Heilfaktor der Psychotherapie ist die Persönlichkeit des Arztes, die nicht a priori gegeben ist, sondern eine Höchstleistung darstellt“ (Medizin und Psychotherapie (1945), Kursiv im Orig. In: Ges. Werke 16, § 198, Olten: Walter; 1971.
3 Am umfassendsten hat sich m. W. die amerikanische Psychoanalytikerin Karen J. Maroda in zwei Büchern über „die Macht der Gegenübertragung“ damit auseinandergesetzt (The Power of Countertransference. Innovations in Analytic Technique. 2nd ed., revised & enlarged. Hillsdale, NJ / London: The Analytic Press; 1991 / 20042; Seduction, Surrender, and Transformation. Emotional Engagement in the Analytic Process. NY / London: The Analytic Press; 1998. Konkrete Beispiele, wie weitgehend und gewagt solche therapeutischen Strategien radikaler Mutualität von herkömmlichen Psychoanalytikern praktiziert werden, erlebt man in den klinischen Vignetten von Steven H. Knoblauch. The Musical Edge of Therapeutic Dialogue. Hillsdale, NJ: The Analytic Press; 2000. Vgl. Ware RC. Die intersubjektive Rhythmik. Eine Rezension: Stephen H. Knoblauch (2000). Psychoanalyse & Körper 2009; Nr. 14, 8: 103–109.

3

4 Für R. D. Hinshelwood (Wörterbuch der kleinianischen Psychoanalyse. Stuttgart: Verlag Internationale Psychoanalyse; 1993: 379) bedeutet Empathie: „Ein wahrnehmender Teil des eigenen Selbst [wird] in die Situation des anderen versetzt, damit er, in der Phantasie, dessen Erfahrungen machen kann“. Er sieht Empathie als „ein Eindringen in eine andere Person“ (Kursiv RW) – möglicherweise ein Hinweis, weshalb manche störbare Pa­tient/-innen sich gegen empathische Äußerungen des Therapeuten wehren. Vgl. Knoblauch a. a. O., 79–80.

5 Vgl. in deutscher Sprache neben Jaenicke [4] und Tiedemann [11] [12] , Altmeyer M, Thomä H, Hrsg. Die vernetzte Seele. Die intersubjektive Wende in der Psychoanalyse. Stuttgart: Klett-Cotta; 2006; Potthoff P. Relationale Psychoanalyse – auf dem Weg zu einer postmodernen Psychoanalyse? In: Springer A, Münch K, Munz D, Hrsg. Psychoanalyse heute?! Gießen: Psychosozial; 2007.

6 Chris Jaenicke, Persönliche Mitteilung an Donna Orange. Zit. nach Orange [16], S. 347.

7 Vgl. hierzu das ausführliche Fallbeispiel von Poettgen-Havekost [26].

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