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DOI: 10.1055/s-0029-1243967
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
„Mehr Licht! Mehr Luft” – Bauhygiene 1870 – 1880
Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
07. April 2010 (online)
Kernaussagen
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Die Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege (DVöG) zur Bauhygiene von 1875 entstanden im Kontext sozialreformerischer Debatten um städtebauliche Maßnahmen, die dem Massenelend in den rasch wachsenden Städten Abhilfe schaffen sollten.
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Die Sorge um gesunde Wohnungen wurde als eine Aufgabe der öffentlichen Gesundheitspflege angesehen, weil der Einzelne dafür ebenso wenig sorgen könne wie für saubere Luft, Boden und Wasser. Besonders für die Arbeiter in Industriestädten waren die Mieten – bedingt durch Bauspekulation – kaum bezahlbar. Als Folge davon waren die Wohnungen überbelegt. Viele lebten in billigen Keller- und Dachwohnungen.
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Der Frankfurter Arzt Georg Varrentrapp setzte mit seinen Resolutionen zur Bauhygiene einerseits darauf, dass sie in örtliche Baustatuten übernommen wurden. Ergänzend dazu gründete er in Frankfurt am Main eine gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft, die gesunde und erschwingliche Wohnungen anbot.
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Die wissenschaftlichen Begründungen für die Forderung nach einem trockenen, gut dränierten Baugrund und ausreichender Belüftung waren größtenteils schon in der vorangegangenen Kanalisationsdebatte angeführt worden. Sie beruhten auf den epidemiologischen Studien des Hygienikers Max von Pettenkofer und ließen sich gut mit bürgerlichen Reinlichkeitsvorstellungen vereinbaren.
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Die physiologischen Studien Pettenkofers und Carl Voits zu guter Raumluft wurden kaum als Begründung herangezogen. Vielmehr stützte man sich auf statistisches Material der Berliner Volkszählung, um eine erhöhte Morbidität und Mortalität in Keller- und Dachwohnungen nachzuweisen.
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Die Forderung nach mehr Licht und Luft ist als ein Rückgriff auf die 6 „res non naturales” der Antike zu verstehen. Beide Schlagworte wurden um die Jahrhundertwende von der Lebensreformbewegung aufgegriffen, die eine Rückkehr zu einer gesunden, naturverbundenen Lebensweise propagierte.
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Über die desinfizierende Wirkung von Ozon gab es noch keine ausreichenden Erkenntnisse. Man schätze es vor allem wegen seiner desodorierenden Wirkung. Auch wusste man noch nicht, dass es unter der Einwirkung von Sonnenlicht entsteht.
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Parallel zur öffentlichen Diskussion vollzog sich – inspiriert durch die botanische Forschung – eine ätiologische Wende von der Miasmentheorie zu Mikroorganismen als „Infectionsstoffen”. Hygienisch interessierte Ärzte wie Albrecht Wernich und Hans Buchner begannen die Verbreitung der Mikroorganismen in Luft und Boden experimentell zu untersuchen.
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Wernich war einer der ersten Hygieniker, die etwa zeitgleich zu Robert Koch ein bakteriologisches Forschungsprogramm aufstellten. Seine Methode war fehleranfälliger als diejenige Kochs, eignete sich aber dazu, erstmals die Wirkung von Desinfektionsmitteln zu testen.
Literatur
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- 11 Varrentrapp G. Thesen zur Bauhygiene. DVjöG. 1876; 8 96-138
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Dr. phil. Anne Hardy
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