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DOI: 10.1055/s-0029-1243246
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
Aus der Gutachtenpraxis: „Schallleitungskomponente” bei Innenohrschwerhörigkeit
From the Expert Office: Pseudo-“Air-Bone-Gap” in Sensorineural Hearing LossPublikationsverlauf
Publikationsdatum:
07. Januar 2010 (online)
Einleitung
Die Qualität eines Gutachtens ist vor allem von der Zuverlässigkeit der audiometrischen Messergebnisse abhängig. Die wichtigste Grundlage eines Gutachtens ist der tonaudiometrische Befund, der entscheidende Hinweise auf Ursache, Sitz und Ausmaß einer Schwerhörigkeit geben kann.
Als Schallgeber für die Luftleitungsmessung dienen dem Ohr anliegende möglichst dicht abschließenden Kopfhörer. Sie sollen für das geprüfte Ohr weitgehend konstante Schalldruckverhältnisse am Trommelfell gewährleisten, das Ohr der Gegenseite vom Mithören ausschließen und den Zutritt von Störschall an das geprüfte Ohr verhindern. Große Kopfhörer bringen den Nachteil mit sich, dass der Luftschall sich nicht nur dem Trommelfell mitteilt, sondern dass auch ein Teil der Energie – wegen der breiten Auflage des Kopfhörers – in den Schädelknochen übergeht, also zu Knochenschall wird. So stellen die allgemein verwendeten, relativ großen Kopfhörer mit flacher Gummimuffe einen vernünftigen Kompromiss zwischen einer Luftleitungsmessung möglichst nahe dem Trommelfell und der Ermittlung des tatsächlichen Luftleitungsgehörs im freien Raum dar. (Lehnhardt, E. u. R. Laszig: Praxis der Audiometrie. Georg Thieme Verlag KG 2009).
Die Knochenleitungsmessung erfolgt in der Regel über das Mastoid mit Bügel-Knochenleitungshörern. Das Magnetgehäuse des Hörers ist von Schall absorbierenden Mänteln umgeben um zu verhindern, dass die im Inneren schwingenden Teile zu viel Luftschall abstrahlen. Andernfalls besteht die Gefahr, dass der Höreindruck eher über Luftleitung als über den Knochen zustande kommt. Beim Knochenhörer soll also der Knochenschallanteil gegenüber dem zwangsläufig gleichzeitig entstehenden Luftschall größer sein.
Der Knochenleitungshörer benötigt für die gleich empfundene Lautstärke wesentlich mehr Leistung als der Lufthörer. Deshalb muss für das Erreichen der Hörschwelle die Drosselung des Eichteils reduziert werden. Dies geschieht im Gerät automatisch bei Umschaltung auf Knochenleitung, oder es wird automatisch beim Einschalten des Knochenleitungshörers eine zusätzliche Verstärkung zugeschaltet, die den Empfindlichkeitsunterschied zwischen Luft- und Knochenleitungshörer für alle Töne aufhebt. Damit erreicht man zugleich, dass die Schwellen für Luftleitung und die für Knochenleitung grafisch miteinander übereinstimmen, während in Wirklichkeit das Ohr über Luftleitung wesentlich besser hört als über Knochenleitung. Da der Mensch Knochenleitung um 40–50 dB schlechter hört als Luftleitung, würde die Knochenleitungskurve sonst um diesen Betrag unterhalb der Luftleitungskurve liegen. Ein derartiger tonaudiometrischer Befund würde die Beurteilung der verschiedenen Formen von Schwerhörigkeit stark erschweren. Der Arzt muss sich jedoch darüber im Klaren sein, dass der deckungsgleiche Verlauf von Luft- und Knochenleitungskurven beim Normalhörigen oder beim Schallempfindungsschwerhörigen ein Kunstprodukt darstellt.
Die Gründe für die weitaus geringere Zuverlässigkeit der Knochenleitungs- als der Luftleitungsmessung liegen in technischen Änderungen, denen die Tonaudiometer aus internationalen normungsrechtlichen Zwängen unterzogen worden sind. Die früheren, großflächig aufliegenden von erfahrenen Mitarbeitern der Audiometerhersteller psychoakustisch kalibrierten Knochenleitungshörer wurden Anfang der 90er Jahre gemäß DIN EN 60645-1 endgültig durch Knochenleitungshörer mit einer kreisförmigen Kontaktfläche von 175 mm2 ±25 mm2 ersetzt. Für den Hersteller der Knochenleitungshörer wurde dadurch eine zuverlässige objektive Kalibrierung möglich. Für den Anwender in Klinik und Praxis ist jedoch eine exakte Hörschwellenbestimmung über Knochenleitung am Patienten problematisch geworden (Niemeyer, W.: Kritisches zur Begutachtung der Lärmschwerhörigkeit. HNO-Praxis heute. 20 (2000) 1–86).
Ein weiteres Problem entsteht durch die Unmöglichkeit, Luft- und Knochenleitungskurven bei deckungsgleichem Verlauf übereinander zu zeichnen. Daher liegt die Knochenleitungskurve vereinbarungsgemäß stets oberhalb der Luftleitungskurve. Bei manchen Audiometern lassen sich die Hörwerte nur in 5-Dezibel-Schritten eintragen bzw. dokumentieren. Dann liegt die Knochenleitungskurve um 5 Dezibel „besser” als die Luftleitungskurve. Selbstverständlich handelt es sich dabei jedoch nicht um eine Schallleitungskomponente.
Prof. Dr. T. Brusis
Institut für Begutachtung
Dürener Straße 199–203
50931 Köln
eMail: prof-brusis@t-online.de