Gesundheitswesen 2009; 71(10): 617-622
DOI: 10.1055/s-0029-1239570
Originalarbeit

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Wie können medizinische Leistungen priorisiert werden? Ein Modell aus Schweden[*]

How can Priorities be Set in Medical Services? A Swedish ModelT. Meyer1 , H. Raspe1
  • 1Institut für Sozialmedizin, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck
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Publication Date:
02 November 2009 (online)

Zusammenfassung

Die Diskrepanz zwischen dem medizinisch Machbaren und Finanzierbaren wächst. Priorisierungen in der Medizin helfen dabei, Anforderungen an die Verbesserung der Versorgungsqualität, Rationalisierung und ggf. Rationierung angemessen begegnen zu können. Das Ziel der vorliegenden Arbeit besteht darin, ein Modell zur Priorisierung medizinischer Leistungen, das in Schweden im Zuge der Entwicklung von Leitlinien formuliert wurde, darzustellen. Methodische Grundlage der Analyse stellen Literatur- und Dokumentenanalysen und Experteninterviews dar. Das Modell zur vertikalen Priorisierung basiert auf den drei Priorisierungskriterien Menschenwürde, Bedarf und Solidarität und Kosteneffizienz, die im Rahmen einer Parlamentskommission von 1992–1995 formuliert wurden. Priorisierungsobjekte sind Problem-Behandlungspaare. Eine besondere Bedeutung kommt der Schwere der Erkrankung sowie dem Nutzen der Behandlung als Ausdruck des Behandlungsbedarfs zu, ebenso wie der Kosteneffizienz. Kennzeichnend ist eine starke Orientierung an der vorliegenden wissenschaftlichen Evidenz. Die Vergabe der Priorisierungsurteile von 1–10 folgt keinem einheitlichen Algorithmus, sondern wird als Gesamtwürdigung verstanden. Die besondere Bedeutung der Einbindung der medizinischen Profession in die Entwicklung vertikale Priorisierungslisten wird diskutiert.

Abstract

In health care there is a growing gap between what can be accomplished and financed. Priority setting in medicine helps to counteract the challenges of quality improvement, rationalisation, and – as the case may be – rationing adequately. This paper aims to describe a model on priority setting of medical interventions that has been worked out along with the development of health-care guidelines in Sweden. The methods used are a literature analysis and a document analysis as well as expert interviews. The model of vertical priority setting is based on the three priority setting criteria: human dignity, need and solidarity, and cost-efficiency that have been set down by a parliamentary commission from 1992−1995. Objects of priority setting are condition-treatment pairs. Of central importance are the severity of the condition and the benefit of the treatment as an expression of treatment need, as well as cost-efficiency. The model is characterised by a pronounced orientation towards scientific evidence. The priority ratings from 1−10 do not follow a standardised algorithm but can be understood as a comprehensive appraisal. The discussion focuses on the importance of the integration of the medical profession into the development of vertical priority setting guidelines.

1 aus dem B4-Projekt der DFG-Forschergruppe FOR655 Priorisierung in der Medizin

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1 aus dem B4-Projekt der DFG-Forschergruppe FOR655 Priorisierung in der Medizin

Buchbesprechung

Screening. Durchführung und Nutzen von Vorsorgeuntersuchungen

Angela Raffle, JA Muir Gray
Hans Huber: Bern; 2009
Kartoniert, 336 Seiten, 17 Abbildungen, 11 Tabellen
EUR 39,95
ISBN 978-3-456-84698-9

Systematische Programme zur Früherkennung von Krankheiten (Screening) werden in Deutschland seit Jahren kontrovers diskutiert, aktuelles Beispiel ist die anhaltende Debatte um das Mammografie-Screening. Befürworter betonen den individuellen Nutzen durch eine Teilnahme und verweisen auf die Zahl der durch das Screening vermiedenen Todesfälle oder schweren Krankheitsverläufe. Hauptargumente der Kritiker sind die durch das Screening möglichen individuellen Nachteile und die hohen Kosten für ein flächendeckendes Programm, das dem Gesund-heitssystem Mittel an anderer Stelle entzieht. Hinzu kommt die Tatsache, dass viele der zur Diskussion stehenden Verfahren bereits als kurative Leistungen etabliert sind oder als IGeL-Leistungen angeboten und beworben werden und daher in vielen Bereichen des deutschen Gesundheitssystems bereits ein ,graues Screening‘ existiert. Die wissenschaftlich fundierte Abwägung von Vor- und Nachteilen des Screenings unter medizinischen, ökonomischen und ethischen Aspekten wird dadurch erheblich erschwert.

Hier liefert das vorliegende Buch der beiden englischen Autoren, die auf eine jahrzehntelange Erfahrung mit der Durchführung und Bewertung von Screeningprogrammen verfügen, erstmalig für Deutschland eine umfassende Darstellung der wissenschaftlichen Grundlagen des Screenings ebenso wie eine ausführliche Darstellung der notwendigen Schritte zur Implementierung und Qualitätssicherung eines Screeningsprogramms. Nach einem Überblick über die historischen Wurzeln des Screenings werden in drei Kapiteln die zum Verständnis der Zielsetzung eines Screening und der Möglichkeiten seiner Evaluation notwendigen methodischen Kenntnisse vermittelt. In der zweiten Hälfte des Buches wird darauf aufbauend detailliert erläutert, wie – allerdings unter den Bedingungen eines staatlichen Gesundheitssystems – systematisch ein regionales oder nationales Screeningprogramm etabliert und qualitätsgesichert fortentwickelt werden kann. Dabei werden in einem separaten Kapitel Überlegungen zur Screening-Policy explizit thematisiert, die auf die in den deutschen Diskussionen bekannten Argumente Bezug nehmen. Die Ausführungen werden abgerundet durch zahlreiche Beispiele und Übungsaufgaben am Ende eines jeden Kapitels.

Das Buch richtet sich an alle Fachleute, die mit der Planung, Durchführung und Bewertung von Screening-Programmen beschäftigt sind, ebenso wie es sich in seiner systematischen Klarheit für die Lehre eignet. Kleine Mängel wie der Untertitel, wo es präziser Früherkennung hätte heißen müssen, oder die an manchen Stellen zu enge Anlehnung der Übersetzung an das englische Original seien nur am Rande erwähnt; hier müssen die Leser die Übertragung der Argumentationsketten auf die Situation in Deutschland selbst vornehmen. Das Buch kann dazu beitragen, die hierzulande häufig sehr emotional geführte Diskussion auf belastbare methodische und empirische Grundlagen zurückzuführen.

Enno Swart, Magdeburg

Korrespondenzadresse

Dr. T. Meyer

Institut für Sozialmedizin Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck

Ratzeburger Allee 160

23538 Lübeck

Email: thorsten.meyer@uk-sh.de