Gesundheitswesen 2010; 72(1): 1-2
DOI: 10.1055/s-0029-1238273
Gasteditorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Gesundheitsförderung und Prävention zwischen Freiheit und Paternalismus

C. Eichhorn, J. Loss, P. Schröder-Bäck, C. Wewetzer
Further Information

Publication History

Publication Date:
26 January 2010 (online)

Dr. Christine Eichhorn

PD Dr. Julika Loss

Dr. Peter Schröder-Bäck

Dr. Christa Wewetzer

Ethische Debatten und philosophische Diskussionen haben mittlerweile unübersehbar Einzug in das Gesundheitswesen gehalten. Transplantationsmedizin, aktive Sterbehilfe oder Stammzellforschung: das sind Beispiele für Themen, die wiederholt im Brennpunkt öffentlicher ethischer Reflexion und Diskussion stehen. Das ist für diese Themen naheliegend, denn die Medizin dringt hier zunehmend in Grenzbereiche vor, bei denen es um grundlegende Entscheidungen zum Beginn und zum Ende des Lebens geht.

Weniger augenscheinlich hingegen ist, was an einem Ansatz wie Gesundheitsförderung ethisch zu hinterfragen sein soll. Gesundheit zu fördern, Kompetenzen zu steigern, Lebensqualität zu erhöhen und Leben zu verlängern – die ethische Unbedenklichkeit dieser Ziele und der entsprechenden Maßnahmen gilt auch den Vertretern der Profession als unstrittig. Die feste Überzeugung, einer gemeinnützigen, sinnvollen und sozialen Sache zu dienen, kann als wesentliche Triebfeder für das Engagement vieler – auch ehrenamtlicher – Akteure im Bereich Prävention und Gesundheitsförderung angesehen werden.

Die erhitzten Debatten zum ausgedehnten Nichtraucherschutz oder zur HPV-Impfung haben allerdings unlängst gezeigt, dass auch die vermeintlich sinnvollen Ziele von Prävention und Gesundheitsförderung nicht per se ethisch plausibel sind. So werden z. B. Begriffe wie Bevormundung oder Manipulation im Zusammenhang mit präventionspolitischen Maßnahmen genannt. Bisher fand jedoch eine systematische kritische Auseinandersetzung mit Prävention und Gesundheitsförderung in Deutschland nicht oder nur ansatzweise statt. Um eine solche Diskussion anzuregen, fand im Juni 2008 eine Tagung des Zentrums für Gesundheitsethik mit dem Titel „Gesundheit fördern – Public Health zwischen individueller Freiheit, staatlichem Paternalismus und Gemeinwohl” in Hannover statt, an der sich vor allem Philosophen, Gesundheitswissenschaftler und Medizinhistoriker beteiligten. Ihre Vorträge und die intensiven Diskussionen zu ethischen Aspekten von Gesundheitsförderung und Prävention bilden die Grundlage dieses Schwerpunktheftes.

Die Ottawa-Charta der WHO von 1986 nennt als Ziel von Gesundheitsförderung ein höheres Maß an Selbstbestimmung über die Gesundheit. Zu den zentralen Handlungsfeldern für Gesundheitsförderung gehört aber nicht nur die daraus resultierende Entwicklung persönlicher Kompetenzen, um dem Einzelnen zu mehr Einfluss auf die eigene Gesundheit und die Lebenswelt zu verhelfen, sondern auch die Entwicklung einer gesundheitsförderlichen Gesamtpolitik und die Schaffung von gesundheitsförderlichen Lebenswelten. Es wird somit ein Bogen zwischen Selbstbestimmung und Freiheit des Einzelnen auf der einen und staatlichen Maßnahmen wie Gesetzen, strukturellen und umweltbezogenen Veränderungen auf der anderen Seite gespannt. Obwohl die Ottawa-Charta beide Bereiche gleichermaßen als „Grundsteine” der Gesundheitsförderung, definiert, steht derzeit in der präventionspolitischen Praxis die Eigenverantwortung sehr viel stärker im Mittelpunkt. So zielen Bonus-Programme der Krankenkassen, die Diskussion um Kostenübernahme bei selbstverschuldeten Erkrankungen, die aktuelle Lebensmittelkennzeichnung, aber auch die Vielzahl von verhaltensorientierten Präventionsangeboten – seien es Kampagnen zur Krebsfrüherkennung, zum Sonnenschutz oder gegen Tabakkonsum – auf eine Verhaltensänderung des Individuums und damit auf die Übernahme von mehr Eigenverantwortung für die Gesundheit ab. Soweit sie keinen direkten Eingriff in die individuelle Freiheit darstellen, stoßen sie kaum auf nennenswerte Widerstände der Bevölkerung. Im Gegensatz dazu sind staatliche Eingriffe, wie z. B. durch die Nichtraucherschutzgesetze der Länder, nur schwer durchsetzbar – vermutlich auch aufgrund der negativen Erfahrungen, die damit u. a. im Nationalsozialismus gemacht wurden.

Die vorliegenden Beiträge setzen sich aus verschiedenen Perspektiven mit dem ethischen Spannungsfeld, in dem sich staatliche Gesundheitsförderung bewegt, auseinander.

Schmidt führt aus, dass die individuelle Eigenverantwortung derzeit als universelles Heilsversprechen gelte; dies nicht zuletzt aus ökonomischen Gründen. Dabei entspräche eigenverantwortliches Handeln aber nicht selbstbestimmtem Handeln, wie es in der Ottawa-Charta formuliert ist, sondern würde zu einer „Pflicht zu Gesundheit” durch Erfüllung der aktuellen Gesundheitsempfehlungen. Schmidt beleuchtet darum das Konzept der Eigenverantwortung sehr kritisch und stellt insbesondere die Gefahren heraus. Hier knüpft der Artikel von Klotter an. Er weist auf einen Aspekt von Autonomie hin, der oft außer Acht gelassen wird.: Autonomes Handeln könne auch bedeuten, sich gegen ein bestimmtes Gesundheitsverhalten – und eventuell zugunsten einer nach individueller Einschätzung höheren Lebensqualität – zu entscheiden. Auch werde bei der Betonung von Eigenverantwortung nicht berücksichtigt, dass Gesundheit in verschiedenen sozialen Schichten einen ganz unterschiedlichen Wert habe. Die gesundheitliche Ungleichheit ist Gegenstand des Artikels von Buyx. Sie setzt sich mit der Frage auseinander, warum daraus der normative Anspruch abgeleitet wird, gesundheitliche Ungleichheit zu beseitigen und untersucht gerechtigkeitstheoretische Ansätze hinsichtlich dieses Ziels. Selbst Ansätze, die primär unverdächtig erscheinen, wie gesundheitliche Aufklärung in Form von Social Marketing Kampagnen, können aus ethischer Sicht problematisch sein, wie der Artikel von Loss & Nagel zeigt. Neben positiven Auswirkungen wie besserer Zielgruppenerreichung und Risikowahrnehmung kann Social Marketing z. B. durch irreführende Botschaften und falsche Versprechungen manipulative Züge annehmen und zu Diskriminierung und Stigmatisierung führen.

Diese Artikel machen deutlich, dass sowohl der Weg, gesundheitsförderndes Verhalten als sinnvoll zu akzeptieren, als auch das Ziel, individuelle Gesundheit zu verbessern, ethische Einsprüche provozieren, die es zu berücksichtigen gilt.

Primär um staatliche Maßnahmen zur Gesundheitsförderung und Prävention geht es in den Artikeln von Hirschberg & Stöckel und von Altgeld. Hirschberg & Stöckel geben einen historischen Überblick über politische und gesellschaftliche Strategien zur Gesundheitssicherung vom Ende des 18. Jahrhunderts bis heute. Sie beschreiben u. a. die negativen Erfahrungen, die im Nationalsozialismus mit staatlichem Paternalismus gemacht wurden. Altgeld stellt verschiedene staatliche Interventionsmöglichkeiten dar und geht vor allem auf aktuelle staatliche Regelungen hinsichtlich Tabak- und Alkoholkonsum ein. Sein Fazit ist, dass staatliche Regelungen v. a. dann akzeptiert werden, wenn Minderheiten nachteilig betroffen sind – wie beim Nichtraucherschutzgesetz. Wäre hingegen ein Großteil der Bevölkerung in Mitleidenschaft gezogen – wie beispielsweise beim Alkoholkonsum – ließen sich staatliche Regelungen kaum durchsetzen.

Weitere Faktoren, die neben dem Individuum und dem Staat Verantwortung für Gesundheit tragen, stellt Michelsen vor. Er nennt hier Gesellschaft, Vergesellschaftung und soziale Strukturen. Da Verhalten sozial und gesellschaftlich eingebettet ist, müssen auch diese Akteure in die Diskussion um Gesundheitsförderung und Prävention einbezogen werden. Eichhorn & Nagel gehen in ihrem Beitrag speziell auf Maßnahmen zur Prävention von Übergewicht und Adipositas ein. Sie stellen diesbezügliche Aufgaben von Staat, Individuum und als weiterem Akteur der Lebensmittelindustrie vor. Letztlich geben Kuhn & Trojan einen Überblick über die Entwicklung von Prävention und Gesundheitsförderung in der Vergangenheit und leiten daraus Empfehlungen für die Zukunft ab.

Das vorliegende Schwerpunktheft gibt somit einen kritischen Überblick über Maßnahmen der Gesundheitsförderung und Prävention aus ethischer Perspektive und liefert viele Anstöße für weitere Diskussion sowie für die Forschung und Praxis. Die Ottawa-Charta kann dabei nach wie vor als Richtschnur für Gesundheitsförderung dienen, sofern sie nicht einseitig auf den Aspekt der Selbstbestimmung und Eigenverantwortung reduziert wird, sondern auch die Rolle von Staat, Gesellschaft und weiteren Akteuren berücksichtigt werden.

Korrespondenzadresse

Dr. Christine Eichhorn

Institut für Medizinmanagement & Gesundheitswissenschaften

Universität Bayreuth

95440 Bayreuth

Email: christine.eichhorn@uni-bayreuth.de

PD Dr. med. Julika Loss

Institut für Medizinmanagement & Gesundheitswissenschaften

Universität Bayreuth

95440 Bayreuth

Email: julika.loss@uni-bayreuth.de

Dr. Peter Schröder-Bäck

Maastricht University

Faculty of Health, Medicine & Life Sciences

Department of International Health

P.O. Box 616

6200 MD Maastricht

The Netherlands

Email: Peter.Schroder@inthealth.unimaas.nl

Dr. Christa Wewetzer

Zentrum für Gesundheitsethik

Knochenhauerstraße 33

30159 Hannover

Email: christa.wewetzer@evlka.de

    >