Rehabilitation (Stuttg) 2009; 48(4): 240-243
DOI: 10.1055/s-0029-1231063
Aus der DVfR

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

„Arbeit möglichst jedem zugänglich machen”

Rede von Olaf Scholz, Bundesminister für Arbeit und Soziales, anlässlich des Festempfanges zum 100-jährigen Jubiläum der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation am 22. April 2009 in Berlin„Making Work As Accessible for Everybody As Possible”Speech Given by Olaf Scholz, Federal Minister for Work and Social Affairs, at the Reception Commemorating the 100th Anniversary of the German Society for Rehabilitation Held 22 April 2009 in Berlin
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Publikationsdatum:
17. August 2009 (online)

Am Anfang stand eine gute und pragmatische Idee: Die Möglichkeit zu arbeiten sollte allen Bürgerinnen und Bürgern offenstehen. Alle sollten die Chance bekommen, niemand sollte vorschnell aussortiert werden. Und das ist bis heute richtig. Denn wenn alle am Wohlstand teilhaben sollen, dann brauchen auch alle die Chance auf Arbeit.

Mit entsprechender Hilfe sollten aus Almosenempfängern Steuerzahler gemacht werden, wie einer der Gründer Ihres Vereins 1909 schrieb. 100 Jahre ist das her. Damals wurde hier in Berlin, im großen Saal des preußischen Kultusministeriums, am 14. April 1909 die heutige Deutsche Vereinigung für Rehabilitation gegründet. Das Ziel, die Erwerbsfähigkeit behinderter Bürgerinnen und Bürger zu stärken, war damals bahnbrechend und ist noch heute fortschrittlich.

1909 hieß Ihr Verein noch „Deutsche Vereinigung für Krüppelfürsorge” – das war politisch korrekt. Sprache verändert sich, Ziele auch. Aber die grundlegende Stoßrichtung ist geblieben. Arbeit ist die zentrale Kategorie unseres menschlichen Zusammenlebens und Zusammenwirkens. Arbeit ist die Quelle allen Reichtums und aller Kultur. Diese Quelle muss sprudeln. Von ihr müssen alle trinken können.

Es geht um Chancengleichheit und Integration, um das Ziel, alle Bürgerinnen und Bürger zu befähigen, ihr Leben selbstbestimmt nach den eigenen Vorstellungen und Wünschen führen zu können. Davon profitieren dann auch alle. Denn wer an einer Gesellschaft und ihrem Arbeitsleben teilhaben kann, der kann ihr auch etwas zurückgeben.

Bis heute geht es bei guter Rehabilitationsarbeit darum, Erwerbsfähigkeit zu fördern, indem medizinische, pädagogische und berufsbildende Maßnahmen kombiniert werden. Zunächst vor allem mit Blick auf Bürgerinnen und Bürger mit Körperbehinderung. Mittlerweile auch für Bürgerinnen und Bürger mit anderen Behinderungen sowie chronischen Erkrankungen.

Das ist das Programm, dessen Jubiläum wir heute gleichsam verbunden mit Ihrem Vereins-Geburtstag feiern wollen.

Von Beginn an stand die Eingliederung in das Berufsleben im Vordergrund. Von Beginn an ging es darum, alle beteiligten Kräfte zu bündeln und zu koordinieren, Aufklärungsarbeit zu leisten und um Unterstützung auf behördlicher Ebene zu werben.

Diesen – auch im internationalen Vergleich – revolutionären Zielen ist die Deutsche Vereinigung für Rehabilitation seit 100 Jahren treu geblieben. Und diese Ziele haben sich in den vergangenen Jahren immer mehr zu Eckpfeilern der Politik für Bürgerinnen und Bürger mit Behinderungen entwickelt.

Vieles, was wir heute als selbstverständlich erachten, verdanken wir auch den Bemühungen und Anstrengungen der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation.

Wir haben in den vergangenen Jahren viel auf den Weg bringen können, was den Bürgerinnen und Bürgern hilft, die nach Unfall, schwerer Krankheit oder aus Behinderung heraus ihren Weg in die Gesellschaft und in Arbeit finden wollen. Gemeinsam mit vielen haben wir in der sozialpolitischen Gesetzgebung und im zivilrechtlichen Bereich die Grundlagen neu ausgerichtet und ein bürgernahes und teilhabeorientiertes Recht entwickelt.

In nur einem Jahrzehnt ist es uns so gelungen, ein ganzes Politikfeld von Grund auf zu erneuern: mit

dem Sozialgesetzbuch IX im Jahr 2001, dem Behindertengleichstellungsgesetz 2002, dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz 2006, einer ganzen Reihe erfolgreicher Arbeitsmarktprogramme und der Initiative „job – Jobs ohne Barrieren”,

dazu kommen

Prävention und betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) seit 2004, die Einführung des Persönlichen Budgets als Rechtsanspruch im Jahr 2008 und seit 2009 die „Unterstützte Beschäftigung” als Angebot an diejenigen, die mit entsprechender Hilfe die Möglichkeit haben, ihren Lebensunterhalt auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu verdienen.

All das hat den Alltag behinderter Bürgerinnen und Bürger in Deutschland spürbar positiv verändert: Wir haben Barrieren abgebaut und die Voraussetzungen für Selbstbestimmung und Teilhabe verbessert.

Ich bin davon überzeugt und halte es für notwendig, dass sich diese Entwicklung fortsetzen wird.

Deshalb sind wir immer noch unterwegs. Mit unverminderter Kraft. Sie wissen: Gesetze sind das eine. Die Realität ist oft etwas anderes. Deshalb kommt es weiterhin darauf an, den gesetzlichen Rahmen im täglichen Zusammenleben konkret auszugestalten.

Insbesondere mit dem SGB IX haben wir der Behinderten- und Rehabilitationspolitik vor rund acht Jahren eine neue Grundlage gegeben. Mit dem SGB IX wollten wir unter anderem den Zugang zur Rehabilitation schnell und bürgernah gestalten.

Deshalb haben wir die Grundlage für Strukturen geschaffen, mit denen die Nachteile des gegliederten Systems reduziert bzw. beseitigt werden sollten. Das System selbst wurde aber beibehalten. Eindeutig und nachdrücklich aber verpflichtet das SGB IX die Rehabilitationsträger darauf, zu kooperieren und ihre Leistungen zu koordinieren, um so die „umfassende Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zügig, wirksam, wirtschaftlich und auf Dauer zu ermöglichen” (§ 10 Abs. 1 SGB IX).

Wenn die Träger heute zum Teil immer noch nicht zusammenarbeiten, wenn Teilhabeleistungen nicht zeitnah und passgenau erbracht werden – dann wird das dem Geist UND dem Buchstaben des SGB IX nicht gerecht. Dann sind alle gefordert, noch besser zu werden.

Ein Beispiel ist der Auftrag, die Gemeinsamen Servicestellen flächendeckend und trägerübergreifend zum Funktionieren zu bringen. Die dafür eingesetzte Arbeitsgruppe der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation hat vieles bewegt und vorangetrieben. Aber wir sind noch nicht am Ziel.

Es ist höchste Zeit, dass die Gemeinsamen Servicestellen für alle erkennbar den Stellenwert bekommen, der ihnen zugedacht ist: Sie sollen bürgernahe und niedrigschwellige Dienstleistungen ermöglichen. Das ist kein Gnadenakt, sondern ein Rechtsanspruch.

Erste Verbesserungen sind sichtbar – aber wenn wir von Gemeinsamen Servicestellen sprechen, dann meinen wir wirklich alle Rehaträger. Es darf nicht mehr sein, dass sich Betroffene beklagen müssen über mangelnden Service oder darüber, dass sie weitergeschickt werden, wenn sie Rat und Hilfe suchen.

Beratung und Unterstützung, bürgernah, umfassend, kompetent, trägerübergreifend, also „wie aus einer Hand”, das ist und bleibt das Ziel!

Wenn wir umfassende Teilhabe wollen, dann müssen die Angebote auch erreichbar sein – und dann müssen sie entsprechend früh einsetzen. Deshalb ist die Frühförderung ebenfalls ein Thema, das uns nun schon seit geraumer Zeit bewegt – und das mitentscheidend ist dafür, ob junge Menschen mit Behinderungen später den Weg ins Erwerbsleben finden.

Es geht dabei um eine komplexe, niedrigschwellige interdisziplinäre Leistung. Es geht um heilpädagogische und medizinische Angebote für behinderte und von Behinderung bedrohte Kinder bis zum Schuleintritt. Und es geht darum, das familiäre Umfeld gezielt mit einzubeziehen.

Das nicht mehr nur in der Addition von Leistungen, sondern als eigene Komplexleistung etabliert zu haben, ist ebenfalls ein Verdienst des SGB IX. Dadurch wurde erstmals im Sozialrecht die Möglichkeit geschaffen, dass eine Leistung trägerübergreifend anteilig finanziert, aber gleichzeitig aus einer Hand erbracht wird.

Bisher liegen bundesweit 14 Landesrahmenempfehlungen bzw. Landesrahmenverträge vor. Doch fehlt es vielfach an dem entscheidenden weiteren Schritt, dem Abschluss dreiseitiger Vergütungsverträge zwischen den Krankenkassen, den Kommunen und den Leistungserbringern vor Ort.

In der Praxis zeigt sich, dass manche anscheinend immer noch nicht wissen, was genau sich hinter der Komplexleistung verbirgt. Es reicht jedenfalls nicht, einfach bereits bestehende Leistungspflichten der beteiligten Reha-Träger zu addieren.

Es muss klar sein, dass Frühförderung ein eigenständiges Angebot ist. Wir werden deshalb in einem gemeinsamen Rundschreiben mit dem Bundesgesundheitsministerium die aus unserer Sicht wichtigsten Fragen noch einmal aufgreifen und klarstellen. Ich hoffe, dass das die praktische Umsetzung endlich weiter voranbringen wird.

Ein weiteres Feld, auf dem wir noch unterwegs sind, ist die Förderung von behinderten oder von Behinderung bedrohten Kindern und Jugendlichen. Insbesondere in der Schule. Wir alle wissen, dass in Schule und Ausbildung die Grundlagen für den späteren Erfolg im Erwerbsleben gelegt werden.

Deshalb kann uns die aktuelle Situation nicht zufriedenstellen. In Deutschland besuchen nur rund 16 Prozent der behinderten Kinder eine integrative Klasse. Und Kinder an Förderschulen erreichen zu fast 80 Prozent nicht mal einen Hauptschulabschluss. Für die Betroffenen ist es damit besonders schwer, anschließend in Ausbildung und Beruf auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen.

Wir brauchen mehr gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderungen – so wie im UN-Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen gefordert. Und wir brauchen Netzwerke zwischen den Schulen, den Betrieben und den Arbeitsagenturen vor Ort. Das ist ein Gewinn für alle, denn wer schon als Kind den Alltag mit behinderten Freunden verbracht hat, trägt diese Erfahrung später auch in das Berufsleben, sei es als Kollege oder als Arbeitgeber.

Die Umsetzung gemeinsamer Bildung von Anfang an liegt vor allem in den Händen der Länder – Ideen und Konzepte zu ihrer Verwirklichung lassen sich jedoch am besten gemeinsam entwickeln.

Deshalb hat mein Ministerium alle Beteiligten Anfang Mai zu einer Konferenz nach Berlin eingeladen. Gemeinsam mit Bildungswissenschaftlern, Betroffenen und Experten aus der schulischen Praxis wollen wir erkunden, wie die nächsten Schritte auf dem Gebiet der gemeinsamen Bildung von behinderten und nicht behinderten Kindern und Jugendlichen aussehen sollen.

Wir sprechen hier über ein Bürgerrecht, das uns als Gesellschaft insgesamt betrifft. Es gilt die Devise: Mauern in den Köpfen einreißen ist gut, aber verhindern, dass sie sich überhaupt erst aufbauen, ist allemal besser.

Nach der Schule wird es nicht einfacher. Wir alle wissen um die Umbrüche in der Arbeitswelt. Gerade auch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit Behinderungen und gesundheitlichen Einschränkungen oder ältere Beschäftigte bekommen die Veränderungen zu spüren.

Wir müssen uns jetzt gerade in der aktuellen Krise ganz besonders darum kümmern, dass sie nicht abgehängt werden, sondern weiter alle Chancen behalten.

Die Arbeitsabläufe und Produktionsprozesse verändern sich. Neue Beschäftigungsformen wie Leih-, Teilzeit-, Tele- und Projektarbeit entstehen und gewinnen an Bedeutung. Die Zahl wissensgestützter Produkte und Dienstleistungen nimmt rasch zu. Das alles führt zu immer neuen und immer höheren Anforderungen.

Und das alles fordert auch Veränderungen in der Rehabilitation.

Deutschland verfügt über ein beispielhaftes Netz von Einrichtungen zur beruflichen Rehabilitation. Zu ihnen gehören die Berufsförderungswerke (BFW), denen viele Menschen neue berufliche Chancen und Perspektiven verdanken.

Damit sie weiter erfolgreich bleiben, müssen die Reha-Prozesse in den Einrichtungen konsequent auf die individuellen Bedürfnisse der Rehabilitanden ausgerichtet werden. Wer eine Reha macht, ist ein Akteur im Prozess, ein Experte in eigener Sache. Er soll individuell mitgestalten und auch mitverantwortlich sein.

Gleichermaßen wichtig ist eine Vernetzung mit Betrieben und Unternehmen, um ein Eingliederungsmanagement zum Beispiel für kranke Menschen und von Behinderung bedrohte Menschen möglich zu machen. Und es geht um Kooperationen mit anderen Leistungsanbietern.

Wie gelingt es uns, diese Leitbilder stärker in der Praxis und in den Strukturen der beruflichen Reha zu verankern? Um auf diese Frage gute Antworten geben zu können, haben wir die Initiative RehaFutur gestartet. Mit ihr begleiten wir die Einrichtungen und die Rehabilitationsträger beim Umbau. Mit ihr koordinieren wir den nötigen Dialog.

Indem wir die Leistungen weiter individualisieren und die Integrationsbemühungen stetig verbessern, entwickeln wir ein neues Reha-Modell, welches das System der beruflichen Rehabilitation nachhaltig verändern wird. Ideen und Impulse erwarten wir auch von der wissenschaftlichen Fachgruppe RehaFutur, die vom BMAS damit beauftragt wurde, Vorschläge für die mittel- und langfristige Entwicklung der beruflichen Rehabilitation zu erarbeiten. Ergebnisse werden im Mai 2009 vorliegen.

Diese Bemühungen zur Reha sind eingebettet in breitere Überlegungen zur Arbeit. „Gute Arbeit” muss generell die Richtschnur in unseren Unternehmen sein. Es zeigt sich, dass Unternehmen, die das beherzigen, erfolgreicher sind als andere.

Deshalb haben wir eine Initiative gestartet, um über eine neue Kultur der Arbeit zu reden. Es geht dabei um wichtige Fragen, die auch den Bereich der Reha betreffen:

Wie können wir vermeiden, dass Arbeit krank macht? Auf welchen Wegen können wir kranke Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wieder in die Arbeitswelt integrieren? Oder noch besser: Wie können wir verhindern, dass kranke Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer überhaupt ausgegliedert werden?

Das Betriebliche Eingliederungsmanagement kann hier Antworten geben. Es ist dann besonders erfolgreich, wenn die beteiligten Akteure zusammenwirken. Arbeitgeber, Sozialversicherungsträger und die Politik sind hier genauso gefordert wie die Vertretungen der Arbeitnehmer, Arbeitsmediziner, soziale Dienste und vor allem auch die betroffenen Bürgerinnen und Bürger selbst.

Für die Zukunft müssen wir allerdings noch verstärkt Wege finden, damit wir auch in kleinen und mittelgroßen Unternehmen so ein Eingliederungsmanagement einsetzen können.

Wir unterstützen die Integration von Bürgerinnen und Bürgern mit Behinderungen in den Arbeitsmarkt außerdem mit der Beispiel-Initiative „job – Jobs ohne Barrieren” und mit dem konkreten Arbeitsmarktprogramm „Job4000”. Hiermit schaffen wir zusätzliche Arbeits- und Ausbildungsplätze vor allem für schwerbehinderte Menschen mit besonderen Einschränkungen.

Teilhabe am Arbeitsleben ist auch bei der anstehenden Reform der Eingliederungshilfe ein wesentlicher Punkt, den wir gemeinsam mit den Ländern und unter Beteiligung der Verbände angehen werden.

Im Ergebnis ist unsere Bilanz gut: Die Beschäftigungsquote bei den beschäftigungspflichtigen Arbeitgebern steigt. 2002 betrug sie noch 3,8 Prozent, 2006 waren es schon 4,3 Prozent. Die vom Gesetzgeber geforderten 5 Prozent sind zwar noch nicht erreicht, aber wir haben die Zielgerade im Blick. Bei den Arbeitgebern im öffentlichen Sektor sind es schon 5,9 Prozent und bei den obersten Bundesbehörden sogar 8,5 Prozent. Auch die Zahl der behinderten Menschen, die bei den beschäftigungspflichtigen Arbeitgebern arbeiten, ist im gleichen Zeitraum gestiegen: von 716 057 im Jahr 2002 auf rund 788 000 im Jahr 2006.

Ein Grund zur Zufriedenheit ist das aber noch lange nicht. Noch immer sind rund 160 000 Menschen mit Behinderungen arbeitslos. Und es steht zu befürchten, dass die Situation aufgrund der aktuellen wirtschaftlichen Krise nicht besser wird.

Aber wir dürfen uns von dem Ziel nicht verabschieden: Jeder, der arbeiten will und kann, soll dazu auch die Chance bekommen. Jeder soll wissen: Wer sich anstrengt, muss etwas davon haben. Wer sich Mühe gibt, muss sein Leben verbessern können. Und zugleich werden wir niemanden am Wegesrand zurücklassen, der sich nicht alleine helfen kann.

Wir müssen dahin kommen, dass bei der Besetzung einer Stelle die Frage nicht lautet „behindert oder nicht behindert?”, sondern wie bei allen anderen auch „geeignet oder nicht geeignet?”

Deshalb wollen wir auch mit der Unterstützten Beschäftigung neue Brücken bauen. Sie soll schwerbehinderten Bürgerinnen und Bürgern besser als bisher ermöglichen, auch außerhalb von Werkstätten auf dem ersten Arbeitsmarkt zu arbeiten.

Nach dem Grundsatz „erst platzieren, dann qualifizieren” werden Menschen mit Behinderungen in einem Betrieb so lange eingearbeitet und unterstützt, bis ein Arbeitsvertrag abgeschlossen werden kann. Und auch danach kann die berufsbegleitende Unterstützung fortdauern, solange dies erforderlich ist.

Das ist ein direkter, transparenter Weg auf den allgemeinen Arbeitsmarkt. Konkret heißt das:

Jeder erhält eine angemessene berufliche Qualifizierung. Jeder erhält passgenaue Angebote, um fit für die Arbeit zu bleiben oder wieder zu werden. Und jeder bekommt die Chance, sich persönlich weiterzuentwickeln.

Wenn weitere Unterstützung am Arbeitsplatz erforderlich ist, kann sie über das Persönliche Budget nach eigener Wahl und eigenen Bedürfnissen eingekauft werden. Darauf besteht seit dem 1. Januar 2008 ein Rechtsanspruch. Zurzeit nehmen rund 10 000 Bürgerinnen und Bürger ein solches Persönliches Budget in Anspruch, um sich selbst Hilfsleistungen zusammenzustellen. Wir tun viel dafür, dass dieses Instrument bekannter wird. Und wir sammeln Ideen, wie man es noch besser umsetzen kann.

Unter den Gesichtspunkten Selbstbestimmung und Teilhabe markiert das Persönliche Budget den endgültigen Abschied von der Fürsorge: Wer es nutzt, entscheidet selbst, wofür er Geld und Gutscheine verwenden möchte. Er entscheidet selbst, wann, wie und durch wen Leistungen erbracht werden. Das eröffnet viele neue Möglichkeiten, den Grundsatz „ambulant vor stationär” mit Leben zu füllen!

Und die Rückmeldungen sind eindeutig: Die Budgetnehmerinnen und -nehmer schätzen die neuen Möglichkeiten: Wer einmal ein Persönliches Budget gewählt hat, äußert sich überwiegend zufrieden und möchte nicht zur vorherigen Leistungsform zurückkehren.

Hier ist ein Schlussstein einer wesentlichen Entwicklung gesetzt. Und eine neue Wegmarke.

Sichtbarstes Zeichen, wie weit der Bewusstseinswandel in der Politik für Bürgerinnen und Bürger mit Behinderungen mittlerweile gediehen ist, ist sicherlich die Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen.

Ein bahnbrechendes Dokument nicht nur für die weltweit über 600 Millionen behinderten Bürgerinnen und Bürger. Wir sind stolz darauf, dass Deutschland zu den Erstunterzeichnern zählte. Die Konvention definiert soziale und menschenrechtliche Standards, an denen die Vertragsstaaten ihr politisches Handeln zukünftig messen lassen müssen.

Ein gesellschaftlicher Wandel ist damit vorgezeichnet. Teilhabe, Selbstbestimmung und Gleichbehandlung werden weltweit als Standards gefördert. Was wir in 100 Jahren in Deutschland erreicht haben, kann jetzt auch weltweit Maßstab werden. Seit Ende März 2009 ist die Konvention auch in Deutschland geltendes Recht.

Es geht um Politik, die die berechtigten Ansprüche und die Rechte der behinderten Bürgerinnen und Bürger in den Mittelpunkt stellt. Die Bürgerinnen und Bürger mit Behinderungen und ihre Verbände konnten sich in New York aktiv und konstruktiv einbringen – und zwar auf Augenhöhe. Damit waren nicht alle Staaten einverstanden. Doch wir haben das durchgesetzt – zugunsten der Qualität des Vertragswerks und um klar zu machen: Das ist eine Konvention nicht nur für, sondern auch eine Konvention der behinderten Bürgerinnen und Bürger.

Auf der Grundlage des Übereinkommens werden in Zukunft neue Entwicklungen in der Behindertenpolitik angestoßen und beurteilt werden. Die Herausforderung wird nun darin liegen, die Lebensbereiche behinderter Menschen vor dem Hintergrund des Übereinkommens zu durchleuchten und dort, wo es notwendig ist, auch politisch zu handeln.

Wir wissen auch, in welchen Bereichen wir Deutschen in Zukunft in der Behindertenpolitik besonders aktiv werden wollen: Bei der Beschäftigung, im Bildungsbereich und bei der Barrierefreiheit. Die Erarbeitung einer Gesamtstrategie zur Umsetzung des Übereinkommens insgesamt, zum Beispiel in Form eines Aktionsplans, ist eine der größten aktuellen behindertenpolitischen Herausforderungen.

Der erforderliche Wandel kann allerdings nicht nur vom Staat herbeigeführt werden. Eine solche Entwicklung muss von vielen Akteuren getragen werden. Dafür sind starke und engagierte Partner erforderlich.

Ein solcher Partner ist die Deutsche Vereinigung für Rehabilitation!

„Nichts über uns ohne uns” – das war das Motto des Europäischen Jahres der Menschen mit Behinderung 2003. Und dieses Leitmotiv hat auch Ihre Vereinigung verinnerlicht.

Die Deutsche Vereinigung für Rehabilitation ist ein umfassendes interdisziplinäres Forum für die mit der Rehabilitation befassten Berufsgruppen, Institutionen, Verbände und für die behinderten Bürgerinnen und Bürger selbst. Sie sensibilisiert die Gesellschaft für die Bedürfnisse von Bürgerinnen und Bürger mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen.

Sie ist die Plattform für den Dialog aller gesellschaftlichen Kräfte für die Weiterentwicklung der Rehabilitation in Deutschland. Ihr Themenspektrum könnte umfassender kaum sein: Es reicht von der „interdisziplinären Entwicklungsförderung und Rehabilitation im Kindesalter” bis hin zur „Geriatrischen Rehabilitation”. Und das nicht nur national, sondern auch in zahlreichen internationalen Gremien. Das sind beachtliche Erfolge.

Das ist wichtige Arbeit für eine wichtige Sache.

Ich danke daher auch im Namen der Bundesregierung dem Vorstand und der Geschäftsführung, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie den Mitgliedern der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation für ihr Engagement.

Stellvertretend für all die Personen, die in den letzten 100 Jahren an der erfolgreichen Geschichte der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation mitgeschrieben haben, möchte ich ganz besonders die Verdienste des Ehrenvorsitzenden Herrn Professor Kurt-Alphons Jochheim nennen. Lieber Herr Professor Jochheim, Sie haben Ihr Leben lang in nationalen und internationalen Gremien für Verbesserungen in der Rehabilitation gewirkt. Vielen Dank dafür!

Und ich möchte die Gelegenheit nutzen, dem Vorsitzenden Herrn Dr. Matthias Schmidt-Ohlemann Dank zu sagen für seine engagierte Arbeit. Sie sind seit 1986 aktiv und haben, wie man so schön sagt, immer das richtige Gespür für die anstehenden notwendigen Entwicklungen auf dem Gebiet der Rehabilitation. Auch Ihnen vielen Dank!

Ich wünsche der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation und ihren Mitstreitern auch für die nächsten 100 Jahre viel Erfolg und die Kraft, die notwendig ist, um die verschiedensten Interessen auch weiter so zu integrieren, dass wir die bestmöglichen Reha-Angebote organisieren können.

Und wenn wir es geschafft haben, dass es am Ende mehr Teilhabe an der Gesellschaft und – ganz im Sinne Ihres Gründungsimpulses – auch weniger Sozialleistungsempfänger und mehr Steuerzahler gibt, dann haben wir nicht nur etwas für jeden Einzelnen, sondern auch etwas für die ganze Gesellschaft getan.

So wie fortschrittliche Behindertenpolitik ja generell keine Minderheitenpolitik, sondern aktive Gesellschaftspolitik FÜR ALLE ist.

Arbeit ist zu wichtig und wertvoll für den Menschen, als dass es irgendeinen Grund geben könnte, sie jemandem vorzuenthalten. Arbeit stiftet Sinn im Leben. Und es hat Sinn, danach zu streben, sie möglichst jedem zugänglich zu machen.

Ich danke für Ihre Mithilfe und wünsche auch für die nächsten 100 Jahre viel Glück, Erfolg und Energie!

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