Gesundheitswesen 2009; 71(7): 385-390
DOI: 10.1055/s-0029-1214401
Originalarbeit

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Inanspruchnahmegradienten in der Schwangerenvorsorge fordern zur Weiterentwicklung des Präventionskonzepts auf

Utilisation Gradients in Prenatal Care Prompt Further Development of the Prevention ConceptE. Simoes 1 , 3 , SK. Kunz 2 , FW. Schmahl 3
  • 1Kompetenz-Centrum Qualitätsmanagement (KC-Q) der MDK-Gemeinschaft und des GKV-Spitzenverbandes, Lahr/Schwarzwald
  • 2Frauenklinik, Klinikum am Steinenberg, Reutlingen
  • 3Institut für Arbeits- und Sozialmedizin Universität Tübingen, Tübingen
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
02. Juni 2009 (online)

Zusammenfassung

Ziel der Studie: Die Entbindung ist in Deutschland die für Frauen am häufigsten geleistete stationäre Behandlung. Die schwangere Frau, ihr Umfeld und die Gesellschaft haben ein Interesse an und Recht auf Information über die gesundheitliche Versorgung für werdende Mütter und Neugeborene. Eine Analyse der Perinataldaten soll Erkenntnisse darüber generieren, ob Unterschiede bei den Gesundheitschancen werdender Mütter unterschiedlicher sozialer Gruppen bestehen, wenn ja, wie sich psychosoziale und sozio-ökonomische Faktoren mit diesen Unterschieden verbinden.

Methodik: Die Untersuchung erfolgte anhand der Perinataldaten von 556 948 Schwangeren, die an einer Klinik in Baden-Württemberg in den Jahren 1998–2003 entbunden wurden. Im Mittelpunkt der statistischen Analysen standen bivariate Testverfahren auf Gruppenunterschiede. Relative Risiken und Odds Ratios (mit 95% Konfidenzintervall) wurden zur Beschreibung des Risikos für die unterschiedlich Exponierten verwendet.

Ergebnisse: Bei belegtem Nutzen der Vorsorge verstärkt mangelnde Inanspruchnahme von Schwangerschaftsvorsorge durch bestimmte soziale Gruppen gesundheitliche Ungleichheiten. Differenziert nach psychosozialen Belastungen und Merkmalen der horizontalen Ungleichheit (Familienstand, Nationalität) bestanden signifikante Unterschiede im Inanspruchnahmeverhalten. Das Schwangerschaftsrisiko „besondere soziale Belastung” erhöhte das Relative Risiko für unzureichende Vorsorge auf 11,69 (95% CI 8,77–15,58), der Status der unverheirateten Ausländerin auf RR 5,12 (95% CI 3,11–8,46). Ein entsprechendes Bild ergab sich zulasten von Berufskategorien mit ungünstigerem Bildungsniveau. Die Rate geringer Inanspruchnahme lag bei un-/angelernten Arbeiterinnen beispielsweise stets etwa doppelt so hoch wie für die Kategorie „Facharbeiterin”. Die Assoziation zwischen Berufsgruppenzugehörigkeit und Vorsorgeverhalten bei der geringen und der Nutzung über Standard zeigte keine Tendenz in Richtung einer Reduktion der Unterschiede über den untersuchten 5-Jahreszeitraum. Der Anteil an Ausländerinnen war bei den Kategorien mit unzureichender Nutzung signifikant höher (α=0,05). Signifikante Unterschiede bestanden auch bei der Auswahl von Klinikkategorien zur Entbindung. Schwangere der Kategorie „Leitende Position” nahmen gegenüber der Kategorie „un-/angelernte Arbeiterin” Zentrumsmedizin signifikant (α=0,05) vermehrt in Anspruch.

Schlussfolgerungen: Auch unter den bisherigen Rahmenbedingungen freier Zugänglichkeit zu medizinischer Versorgung in Verbindung mit Schwangerschaft und Geburt und dem insgesamt hohen Ausbildungsstand einer industrialisierten Gesellschaft sind Versorgungsungleichheiten zu beobachten, die sich negativ auf das Risiko bestimmter Gruppen von Müttern, die zu den vulnerablen Bevölkerungsgruppen zählen, auswirken. In Kenntnis der Risikokollektive ergibt sich als Konzept, über das frauenheilkundliche Fachgebiet hinaus weitere ärztliche und soziale Betreuungskompetenz systematisiert zu nutzen, um mehr Schwangere rechtzeitig und in angemessenem Umfang in die Schwangerschaftsvorsorge einzuführen.

Abstract

Aim: Deliveries are the most common inpatient treatment for women in Germany. The pregnant women, their personal environment and society have an interest in and right of information about health care for expectant mothers and newborns. Analysis of perinatal data should show whether differences exist in the health chances of pregnant women from different social groups and if so, how psychosocial and socio-economic factors are associated with these differences.

Methods: These issues were studied based on the perinatal data of 556 948 pregnant women, who attended an obstetric clinic in Baden-Wuerttemberg in the years 1998–2003. The statistical analysis focused on testing bivariate group differences. Relative risks and odds ratios (with 95% CI) were used to describe the risk of the exposed.

Results: As benefit of prenatal care was proved, deficits in prenatal care – restricted to special social groups – reinforce health inequalities. Differentiated by psychosocial factors and characteristics of horizontal inequality (marital status, nationality), differences in utilisation of prenatal care between the groups were significant. The pregnancy risk “special social burden” increased the relative risk for insufficient use to 11.69 (95% CI 8.77–15.58), the status of being an unmarried foreigner to RR 5.12 (95% CI 3.11–8.46). A similar pattern emerged, when occupational categories were discerned, affecting adversely categories with less favourable education. The low utilisation rate was always about twice as high for the group of unskilled workers than, for example, for the category “skilled workers”. The association between occupational affiliation and preven-tion behaviour concerning low utilisation and use over standard showed no tendency towards a reduction of differences over the examined 5-year period. The percentage of foreigners was significantly higher (α=0.05) in the categories with insufficient use of prenatal care. Significant differences also existed regarding the choice of hospital categories for delivery. The category of women in “leading positions” used medical centres significantly (α=0.05) more often than pregnant women of the category “unskilled workers”.

Conclusions: Even when free access to medical care concerning pregnancy and childbirth is given and overall a high educational level can be assumed in an industrialised society, health inequities are found that might affect adversely the risk of certain groups of pregnant women, belonging to the vulnerable social groups. Knowing the groups of women at risk allows a tailoring of the concept to use systematically − besides obstetric competence − the care of other medical and social experts, to introduce more pregnant women in good time and sufficiently to the antenatal care services.

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1 Die Perinatalerhebung unterscheidet 6 Berufskategorien: –Hausfrau, –in Ausbildung, Studium, –ungelernte Arbeiterin, angelernte Aushilfskraft, („un/angelernte Arbeiterin”) –Facharbeiter, einfache Beamte, ausführende Angestellte, Kleingewerbetreibende, („Facharbeiterin”), –mittlere bis leitende Beamte und Angestellte, Selbständige mit mittlerem und größerem Betrieb, freie Berufe, Meister, („Leitende Position”), –Beruf unbekannt.

2 Die Perinatalerhebung unterscheidet 6 Klinikkategorien nach Status und Geburtenvolumen: Belegabteilungen: B1 (<500 Entbindungen pro Jahr), B2 (500 und mehr); Hauptabteilungen: C1(<500), C2 (500–999), C3 (≥1000), P1 (Perinatalzentren/perinatologische Schwerpunkte)

3 Standard: 10 Vorsorgeuntersuchungen während einer Schwangerschaft

Korrespondenzadresse

PD Dr. med. E. Simoes

KC-Q

c/o MDK Baden-Württemberg

Ahornweg 2

77933 Lahr/Schwarzwald

eMail: e.simoes@mdkbw.de