Dtsch Med Wochenschr 1908; 34(21): 908-910
DOI: 10.1055/s-0029-1186538
© Georg Thieme Verlag, Stuttgart

Zur Indikationsstellung für den künstlichen Abort wegen psychischer Krankheit

M. Friedmann - Nervenarzt in Mannheim
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Publication Date:
11 August 2009 (online)

Zusammenfassung

Bisher hat man den Abort wegen psychischer Erkrankung fast durchgängig nur in Rücksicht auf echte typische Grraviditäts- und Puerperalpsychosen erwogen und man hat den Eingriff im Prinzip abgelehnt, weil er ohne wirklichen Einfluß auf die Entstehung oder den Verlauf der Psychosen bleibt. Mit Jolly und A. Pick stellt aber Verfasser eine grundsätzlich neue Indikation auf, die zwar ebenfalls nicht gerade häufig sich ergibt, aber doch praktisch ungleich wichtiger sich gestaltet als jene ältere Indikation: es handelt sich dabei um die sogenannte „psychopathische Reaktion” bei psychisch widerstandslosen und neuropathischen Konstitutionen, und es liegt dabei eine krankhafte Ueberwertigkeit und Steigerung der Geburtsangst vor. Von der alltäglichen normalen Geburtsangst unterscheidet sich die pathologische Form dadurch, daß trotz relativ geringfügiger Motivierung die Angst überwältigend stark wird und zum Selbstmorde treibt; daß sie allein alles Denken und Fühlen der Frauen überwuchert und daß sie für keinerlei nützliche Betätigung mehr Raum läß daß sie endlich drittens in Monaten sich nicht bessern oder mildern läßt. Von den echten Psychosen aber unterscheiden sichdiese „psychogenen” Erkrankungen dadurch, daß sie allein durch den psychischen Affekt ins Leben gerufen werden und daß sie namentlich fast ausnahmslos und auf der Stelle verschwinden und zur Genesung gelangen, wenn das krankmachende Agens beseitigt, hier also, wenn die Schwangerschaft künstlich durch den Abort beendet wird. So ist es auch in sämtlichen fünf Fällen Friedmanns geschehen, und nur einer davon ist später rückfällig geworden (mit tödlichem Ausgang durch floride Lungentuberkulose). Die Gefahren des Zustandes sind hauptsächlich zweierlei Art: der Selbstmord und eine bedrohliche körperliche Abnahme infolge der heftigen Angst. Da die Irrenanstalt eventuell nur der ersteren Gefahr wehrt und da sie ohnehin eine Härte für die sonst psychisch intakten Frauen in sich schließt, so rechtfertigt sich der künstliche Abort aus Gründen der Humanität, und dies um so mehr, als auch die Aeußerungen der Rechtsgelehrten in diesem Sinne erfolgt sind.