Notfallmedizin up2date 2009; 4(3): 185
DOI: 10.1055/s-0029-1186130
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Kinder sind keine kleinen Erwachsenen – oder doch?

Dominique Singer
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
17. September 2009 (online)

Unfälle oder akute Erkrankungen im Kindesalter sind bei den herbeigerufenen Notärzten oft mit Angst verbunden. Die Ursachen dieser Angst sind vielfältig und reichen von der mangelnden Vertrautheit mit der altersspezifischen Pathophysiologie und Krankheitslehre über die ungewohnten Größenverhältnisse, was technische Maßnahmen und Medikamentendosierungen anbelangt, bis hin zu dem empfundenen Verantwortungsdruck für das weitere Leben des „unschuldigen“ Kindes in der Begegnung mit den verzweifelten Eltern. Ähnliche Ängste beschleichen übrigens auch viele Kinderärzte, wenn sie mit Patienten konfrontiert werden, die zwar von ihrem chronologischen Alter und psychischen Entwicklungszustand noch dem Kindes- bzw. Jugendalter angehören, aber angesichts der verbreiteten Akzeleration körperlich bereits als erwachsen zu betrachten sind.

Tatsächlich bestehen zwischen Kindern und Erwachsenen grundsätzliche pathophysiologische Unterschiede, die eine auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Versorgung erfordern. Zu diesen Besonderheiten, die sich aus der geringeren Körpergröße und dem „unfertigen“ Entwicklungszustand ergeben, zählen das oft unterschätzte Hypothermierisiko, die Prädominanz respiratorischer gegenüber kardiovaskulären Erkrankungen wie auch das traurige Kapitel der „nichtakzidentellen“ (durch Vernachlässigung oder Misshandlung hervorgerufenen) Verletzungen (siehe Rezension „Kompetente Hilfen zu einem bedrückenden Thema“ in diesem Heft). Alle diese Unterschiede werden oft unter dem plakativen Slogan „Kinder sind keine kleinen Erwachsenen“ zusammengefasst, der dennoch speziell in der Versorgung von Notfall- und Intensivpatienten nicht immer hinreichend befolgt wird.

Andererseits sollten sich die beteiligten Disziplinen deswegen nicht hinter ihren Fachgrenzen verstecken oder gar verschanzen, sondern vielmehr Respekt und Neugierde dafür entwickeln, wer für welche Situationen besser gerüstet ist und was man voneinander lernen kann. So wird die Versorgung polytraumatisierter Kinder (siehe Beitrag „Das polytraumatisierte Kind“ in diesem Heft) zweifellos am routiniertesten von denjenigen Kollegen zu leisten sein, die auch sonst – anders als die meisten Pädiater – an die Arbeit „im Straßengraben“ oder im Schockraum gewöhnt sind. Umgekehrt scheint es, dass in der Behandlung akuter Infektionen bei Erwachsenen (siehe Beitrag „Meningitis“ in diesem Heft) zunehmend Tugenden (der raschestmöglichen Kreislaufstabilisierung und Antibiotikatherapie) Beachtung finden, die in der Pädiatrie angesichts des altersbedingt foudroyanten Verlaufs von B‐Streptokokken- oder Meningokokken-Septitiden im Neugeborenen- oder Kleinkindesalter schon länger etabliert sind: Die neuerdings vielzitierte „Golden Hour“ der Sepsistherapie könnte in diesem Sinne geradezu eine pädiatrische Erfindung sein!

Die Versorgung der anspruchvollsten Patienten wird am qualifiziertesten gelingen und der Verantwortungsdruck am leichtesten zu tragen sein, wenn jeder Disziplin „neidlos“ zugestanden wird, beizutragen, was sie jeweils am besten kann. Diesem Ziel einer sachorientierten interdisziplinären Zusammenarbeit fühlt sich auch die Notfallmedizin up2date ausdrücklich verpflichtet, indem sie immer wieder Themen aus den Schnittmengen verschiedener Fachgebiete zu beleuchten versucht.

Prof. Dr. med. Dominique Singer, Hamburg