Zahnmedizin up2date 2009; 3(4): 323
DOI: 10.1055/s-0029-1185976
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr

Norbert Krämer
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
30. Juli 2009 (online)

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen,

dieses altbekannte Sprichwort könnte auch als Überschrift für unsere neue Ausgabe von Zahnmedizin up2date dienen. Der Bogen spannt sich von der Kinderzahnheilkunde bis zur Alterszahnheilkunde und in beiden Bereichen scheint offensichtlich das altbekannte Problem „Karies“ – beim Einen „frühkindliche Karies“, beim Anderen „Wurzelkaries“ – wieder zuzunehmen. Auch die Ätiologie der Erkrankung erinnert an ähnliche Mechanismen in beiden Altersgruppen.

So erinnere ich mich noch gut an eine ältere Dame, die ich jahrelang betreuen durfte und die regelmäßig zum zahnärztlichen Recall kam. Jedes Mal wurde ich leider wieder fündig. Die neuen Läsionen rührten nicht nur von einer unzureichenden Approximalhygiene her – diese konnte im Laufe der Jahre langsam mit Interdentalbürsten verbessert werden. So nebenbei kam ich darauf, dass sie, wie schon in frühester Jugend, das berühmte „Betthupferl“ zu sich nahm. Leider war es nicht die kariogene „Gute-Nacht-Geschichte“, sondern die kleine Süßigkeit, die vor dem Zubettgehen ohne Zähneputzen viel Schaden anrichtete.

Auch bei „Hänschen“ richtet vor allem das „Betthupferl“ Saftflasche nach wie vor großen Schaden an. Lokal fällt diese Problematik vor allem in speziell kinderzahnheilkundlich orientierten Einrichtungen auf. So stieg die Anzahl der Kinder, die sich wegen frühkindlicher Karies in unserer Abteilung vorstellten, in den letzten 3 Jahren um etwa 20 % an. Bei den durchschnittlich 3-jährigen Kindern lag der mittlere dmf-t-Wert bei über 9; d. h. die Hälfte der vorhandenen Milchzähne zeigte bereits einen Behandlungsbedarf.

Eine Nichtbehandlung dieser Zähne führt unweigerlich zu einer Karieshistorie, die auf die bleibende Dentition übertragen werden und somit „Hans“ viel Kummer bereiten kann. Leider hört man trotzdem nach wie vor auch aus Kollegenkreisen: „Das sind doch Milchzähne, die fallen ja sowieso raus.“ Unabhängig von der wissenschaftlichen Bewertung zeigt die tagtägliche Praxis, dass eine Therapieverweigerung durchaus akut die Gesundheit der Kinder gefährden kann. Dies konnte ich an Pfingsten dieses Jahres live erleben, als sich ein 8-jähriger Junge in unserer Abteilung vorstellte. Seine Krankengeschichte liest sich stenografisch wie ein schlechter Film: Trepanation des schmerzverursachenden Zahnes 64 im Notdienst am Pfingstsonntag, Abszesseröffnung am Pfingstmontag ebenfalls im Notdienst, bei nach wie vor vorhandener Schwellung Antibiose (Breitspektrum-Penicillin) am Dienstagmorgen und schließlich nachmittags Überweisung von der niedergelassenen Kollegin mit reduziertem Allgemeinzustand, steigendem Fieber und beginnendem Fossa-canina-Abszess zur stationären Aufnahme.

Die Frage bleibt, wie man solche Erfahrungen für „Hänschen“ wie „Hans“ vermeiden kann. Auch hier zeigt die Beratungsresistenz bei den Eltern von „Hänschen“ sowie bei „Hans“ selbst Parallelen. In den letzten Jahren wurde versucht, durch lobenswerte Aktionen das Problem Karies wieder in den Griff zu bekommen. Leider zeigen diese Aktionen auch, dass der Aufwand nur begrenzt Erfolg hat, wenn nicht interdisziplinär alle Betreuer an einem Strang ziehen. Beispielhaft lässt sich dieses Phänomen im Zusammenhang mit der aktuell stattfindenden Erhebung zur „Mundgesundheit von 6-, 7-, 12- und 15-jährigen Schulkindern“ in verschiedenen Bundesländern finden. Schulen verweigern vor dem Hintergrund der zahlreichen, parallelen und nicht abgestimmten Studien und Projekte zu diversen Themen (z. B. Schulsicherheit, gesunde Ernährung, Anleitung zu mehr Bewegung, Suchtproblematik etc.) den Zugang, um im Zeitalter des G8 nicht noch mehr Unterrichtszeit zu verlieren.

Es bleibt zu hoffen, dass Absprachen zwischen den einzelnen Gruppen auch künftig eine präventionsorientierte Gesundheitserziehung und ‐anleitung in jeder Altersgruppe möglich machen. So können wir hoffentlich künftig wieder vermehrt über Präventions- statt über Reparaturstrategien berichten.

Mit den besten Wünschen verbleibe ich Ihr

Prof. Dr. Norbert Krämer

Leiter der Abteilung Kinderzahnheilkunde an der Poliklinik für Kieferorthopädie der TU Dresden
Mitherausgeber der Zahnmedizin up2date