Dtsch Med Wochenschr 1930; 56(22): 905-909
DOI: 10.1055/s-0028-1125721
© Georg Thieme Verlag, Stuttgart

Ueber die sogenannten Neurosen

M. Reichardt - Direktor der Klinik
  • Aus der Psychiatrischen und Nervenklinik der Universität in Würzburg
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
05. Mai 2009 (online)

Zusammenfassung

In dem Wort „Neurose” vereinigen sich auch jetzt noch zwei, sich gegenüberstehende, Anschauungen: eine ältere, nach welcher das Wort Neurose eine echte Krankheitsbezeichnung ist, und eine neuere, psychopathologische, nach welcher Neurose eine Konfliktreaktion bedeutet. Ursprünglich war Neurose etwas Physisches, Vegetativ-Endokrines, organisch Gedachtes, wobei die Störung ebensowohl im Körper wie in den regulierenden vegetativ-endokrinen Zentralstellen des Hirnstammes ihren Sitz haben kann. Diese Zentralstellen (und hiermit auch der Körper oder ein einzelnes Organ) können (in individuell sehr verschiedener Weise) aber auch vom Psychischen her reaktiv in Bewegung gesetzt werden. Der neuere psychopathologische Neurosebegriff ist ein — man kann wohl sagen: ausschließlich — psychologischer geworden. Aber der erste Typus (Neurose im Sinne von primären vegetativen oder endokrinen Störungen und im Sinne von echter Krankheit) ist gleichfalls noch vorhanden. Beide Auffassungen bezeichnen also etwas Wesensverschiedenes, so ähnlich auch die Symptomenbilder vorübergehend oder längere Zeit hindurch sein können. Im Interesse der gegenseitigen Verständigung und der wissenschaftlichen Klarheit erscheint es dringend geboten, nicht beide wesensverschiedene Syndrome mit dem gleichen Wort „Neurose” zu bezeichnen, sondern sich einheitlich in der gesamten Medizin zu entscheiden, ob Neurose in dem einen oder anderen Sinne gebraucht werden soll. Am zweckmäßigsten dürfte sein, das Wort Neurose bis auf weiteres überhaupt zu vermeiden. Denn der (in solchen Fällen stets sehr großen) Gefahr, anstatt einer genauen Diagnose den unbestimmten Begriff zu verwenden und hiermit der genauen Diagnosestellung aus dem Weg zu gehen, sind schon zu viele Aerzte, Gutachter und Verfasser medizinischer Aufsätze unterlegen, wie die Gegenwart beweist.