Gesundheitswesen 2009; 71(2): 63-64
DOI: 10.1055/s-0028-1119383
Kommentar

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Soziale Ungleichheit in der gesundheitlichen Versorgung – Ein Plädoyer für systematische Forschung

Social Inequality in Health Care – A Plea for Systematic ResearchU. Härtel 1
  • 1Humanwissenschaftliches Zentrum, Ludwigs-Maximialians-Universität München
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Publication Date:
23 February 2009 (online)

Empirische Studien zur Quantifizierung sozialer Ungleichheit in der gesundheitlichen Versorgung haben in Deutschland keine Tradition. Erst in den letzten Jahren, einhergehend mit der Diskussion um die Gesundheitsreform und Befürchtungen einer drohenden Zwei-Klassenmedizin gewinnt dieses Thema an Brisanz. In ihrem „Plädoyer für eine systematische Forschung” stellen von dem Knesebeck und Kollegen auf der Basis verschiedener Studienbeispiele aus Deutschland ein Analyseschema vor, mit dessen Hilfe soziale Ungleichheiten in der gesundheitlichen Versorgung der BRD erforscht werden sollen. Allerdings zeigt sich angesichts des dargebotenen Schemas in Tab. 1, Seite 60, wie schwierig es ist, ein empirisch praktikables Modell zu entwickeln, das dem komplexen Problem von Ungleichheiten, Ungerechtigkeiten oder Disparitäten in der Versorgung gerecht wird.

In vorliegenden Kommentar soll noch einmal hervorgehoben werden, wie zentral für ein empirisch orientiertes Forschungskonzept zunächst die Klärung der Frage ist, wie schätze und quantifiziere ich soziale Ungleichheit? Dabei kommt man nicht umhin, sowohl für die „Outcomes” (Inanspruchnahme, Zugang, Qualität) eine präzise Definition zu liefern als auch für die Gruppen, die man als benachteiligt oder bevorrechtigt ansieht. Im letzteren Fall reicht die Nennung der bekannten Indikatoren der sozialen Schicht: Einkommen, Beruf und Bildung oder auch des Versicherungsstatus sicher nicht aus, da sie erstens nur einen Teil sozialer Ungleichheiten in der gesundheitlichen Versorgung abbilden und zweitens, je nach „Outcome” sehr unterschiedlich wirken können [1]. Hier gilt es zu klären, welche Gruppen bei welchen Arten der Versorgung (z. B. beim Zugang, bei Diagnose und Behandlung oder in der Sekundärprävention) benachteiligt werden oder im Vorteil sind. So zeigte sich etwa in den USA, dass es dort weniger die Armen sind, bei denen die Qualität der Versorgung schlechter ist, sondern eher die Schwarzen. Von Ärzten am besten behandelt werden weiße Männer, am schlechtesten schwarze Frauen [2].

Selbst wenn die Verhältnisse in den USA oder anderen Ländern Europas nicht auf die BRD zu übertragen sind, sind die analytischen Konzepte zur Systematisierung der Forschung auch für uns hilfreich. Im „US disparity report” werden beispielsweise vier Dimensionen der Gesundheitsversorgung unterschieden, bei denen regelmäßig Ungleichheiten festgestellt werden. 1. Qualität der Versorgung (definiert als leitliniengerechte Behandlung, Effektivität, Patienten-Sicherheit, zeitnahe Behandlung, Patientenzentriertheit); 2. Zugang und Inanspruchnahme (Barrieren und unterstützende Faktoren); 3. Art der Versorgung (präventiv oder kurativ); 4. Art der Versorgungseinrichtung (z. B. Hausarzt, Krankenhäuser, Notversorgung, Pflegeheime).

Ausgangspunkt für die Quantifizierung von Ungleichheit sind in diesen und anderen internationalen Modellen in der Regel die individuellen „Needs” – oder Krankheitsfaktoren, ohne die Ungleichheiten oder Ungerechtigkeiten in der Versorgung kaum zu beurteilen sind [3] [4], so auch in dem sehr überzeugenden „Step-by-Step-Approach” von Dahlgren und Whitehead [4]. In ihrem Modell werden vier Versorgungsstufen voneinander abgegrenzt: „no care”, „self-care”, „access and use of professional care” und „quality of professional care”. Ausgehend von der These, dass es auf jeder Stufe andere Ungleichheitsprobleme gibt, soll der „Step-by-Step-Approach” klären, an welcher Stelle das Versorgungssystem für welche Gruppen nicht funktioniert. Auch in diesem Modell ist die Art des Gesundheitsproblems oder der Krankheit von zentraler Bedeutung. Keine oder eine falsche Behandlung zu erhalten hat für jemanden mit einer akuten Blinddarmentzündung natürlich andere Konsequenzen als für jemanden mit Arthrose oder einer Erkältung.

Auch in Deutschland müssten mittlerweile aufgrund einer Reihe von Gesundheitssurveys schon genügend Daten vorliegen, um die ungleiche Verteilung von Gesundheit und Krankheit in verschiedenen sozialen Gruppen und damit auch den unterschiedlichen gesundheitlichen Bedarf dieser Gruppen zu schätzen, was – wie schon gesagt – die Voraussetzung ist für die Quantifizierung von Versorgungsungleichheiten.

Zum Schluss sei noch einmal betont, dass zur Identifizierung von sozialen Ungleichheiten in der gesundheitlichen Versorgung das traditionelle Schichtmodell nicht ausreicht, da es Benachteiligungen aufgrund von Alter, Region (z. B. Landbevölkerung), ethnischer Zugehörigkeit oder Geschlecht vernachlässigt. Desgleichen müssen beispielsweise in der Analyse der ungleichen Versorgung von privat und gesetzlich Versicherten, die benachteiligten bzw. bevorrechtigten Gruppen genauer definiert werden. Ein privat versicherter Beamter mit hohen Beihilfesätzen wird mit Sicherheit auf jeder Stufe der Versorgung besser behandelt als ein privat versicherter Handwerker mit hohem Eigenanteil, der nur im Notfall einen Arzt aufsucht.

Fazit
Ich möchte das Plädoyer der Autoren für eine systematische Forschung ergänzen um ein Plädoyer für ein präzisiertes analytisches Schema, das „Outcome” – und gruppenspezifi sch konzipiert ist und möglichst viele soziale Merkmale einbezieht, mit denen Bevorrechtigungen oder Benachteiligungen in der gesundheitlichen Versorgung verbunden sind.

Literatur

  • 1 Braveman PA, Cubbin C, Egerter S. et al . Socioeconomic Status in Health Research. One Size does not fit all.  JAMA. 2005; 
  • 2 The Agency for Healthcare Research and Quality (AHRQ): . Key Themes and Highlights from the National Healthcare Disparities Report.  http://www.ahrq.gov/qual/nhdr06/ , Stand Januar 2007
  • 3 Anderson RM. National Health Surveys and the Behavioral Model of Health Services Use.  Medical Care. 2008;  46 647-653
  • 4 Dahlgren G, Whitehead M. A Framework for assessing health systems from the public's perspective: the ALPS Approach.  International Journal of Health Services. 2007;  37 363-378

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. U. HärtelMPH 

Ludwig-Maximilians-Universität

Humanwissenschaftliches Zentrum

Goethestrasse 31

80336 München

Email: ursula.haertel@med.uni-muenchen.de

Email: www.genderhealth.hwz.uni-muenchen.de