Suchttherapie 2008; 9 - S3
DOI: 10.1055/s-0028-1117336

Abstinenz als therapieleitendes Paradigma?

A Uchtenhagen 1
  • 1Institut für Suchtforschung, Zürich

Die Vorstellung von Abstinenz als Therapieziel ist wohl ebenso alt wie die Vorstellung von Sucht als unerwünschtem Verhalten. Man setzt den Beginn dieses Paradigmas beim Amerikaner Benjamin Rush (1772) an, der das Zwangsverhalten und den Kontrollverlust von Alkoholikern als Krankheit beschrieb und als Heilmittel völlige Alkoholabstinenz empfahl. Schon vorher, seit dem 13. Jahrhundert kannte man Trinkverbote, die sich gegen Exzesse richteten und die den unterschiedlichsten moralischen, politischen, ökonomischen Interessen dienten. Auch wenn der Zwang zur Suchtmitteleinnahme bereits Jahrhunderte vorher bekannt war, gab es kein Krankheitsbild Sucht, wohl aber ein ambivalentes Verhältnis zu Rauschmitteln und Rausch. Im Unterschied zu Mäßigkeitsbewegungen, welche seit dem 18. Jahrhundert in USA eine große Rolle spielten und den Ursprung der süchtigen Entgleisung in der Person des Trinkers sahen, erkannte Rush das Suchtpotential des Alkohols und begründete damit die Abstinenzforderung als Therapeutikum.

Die Bedeutung des Abstinenzparadigmas und seiner radikalsten Form einer Prohibition von Suchtmitteln ist kaum zu verstehen, ohne den Hintergrund der zivilisatorischen Entwicklung seit dem Ende des Mittelalters zu berücksichtigen; das Leitmotiv hieß„Rationalisierung der Lebensführung“ (Max Weber). Das Entstehen hoch arbeitsteiliger, leistungsorientierter, auf Innovation bedachter Gesellschaften rückte das Ideal diesseitiger Bewährung durch beruflichen und wirtschaftlichen Erfolg in den Vordergrund. Im Calvinismus war diese Forderung besonders ausgeprägt. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass die Forderung nach der Abstinenz aller, nach der Prohibition, insbesondere in USA und dann in England und Skandinavien auf besonders fruchtbaren Boden fiel. Ökonomische Interessen waren dabei ebenso wichtig wie später bei der Aufhebung der Prohibition. Allerdings gab und gibt es in allen Religionen und Weltanschauungen asketische Idealbildungen, in welchen die Überwindung von Lustbefriedigung einen hohen Stellenwert hat. Zwischen einer Hingabe an Lustvolles und einer Disziplinierung des Luststrebens ein erträgliches Gleichgewicht zu finden, bleibt eine der Konstanten im Leben und Zusammenleben, und Angst vor dem Verfallen in Maßlosigkeit bildet den Boden, auf dem lustfeindliche Askese gedeiht.

Die therapeutische Rolle des Abstinenzparadigmas wurde vom Alkohol auch auf andere Suchtmittel übertragen. Eine wachsende Zahl von Selbsthilfeorganisationen ehemals Süchtiger (AA, NA) und ihrer Angehörigen (AlAnon) stützte sich auf dieses Paradigma, ebenso wie Blaukreuzorganisationen, Guttempler sowie weitere Sozialwerke und psychiatrische Behandlungskonzepte. Eine Erweiterung der Konzepte in Richtung auf andere Behandlungsformen entstand in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts, im Zusammenhang mit vertiefter Beobachtung und wissenschaftlicher Klärung von Varianten und Verläufen süchtigen Verhaltens. Eine große Rolle spielte dabei die zunehmende Rolle des öffentlichen Gesundheitswesens und einer wirkungsorientierten Gesundheitspolitik. Therapien werden an ihrer Kostenwirksamkeit gemessen.

In der heutigen Therapielandschaft sieht sich die Abstinenzforderung als übergreifendes Behandlungsziel in Frage gestellt. Pleasure management, Risikominimierung, Frühinterventionen ohne Abstinenzgebot, Substitutionstherapien (welche die fehlende eigene Konsumkontrolle durch Fremdkontrolle wettmachen) sind Stichworte zur Diversifizierung. Das übergreifende Therapieziel ist es, die Voraussetzungen für ein sozialverträgliches und subjektiv befriedigendes Leben zu schaffen – mit oder ohne Suchtmittelkonsum. Im Spektrum der Angebote gibt es umschreibbare Indikationskriterien für eine unter Abstinenz durchgeführte Therapie – aber die Abstinenz ist instrumentell und nicht das Endziel selbst. Daran werden auch die „new abstentionists“ (Ashton) nichts wirklich ändern können.