Suchttherapie 2008; 9(4): 185-186
DOI: 10.1055/s-0028-1102925
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© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Gorm Grimm

A. Ulmer, R. Ullmann
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
12. Dezember 2008 (online)

Gorm Grimm war einer der Pioniere der Suchtmedizin in Deutschland.

Wenn heute etwa 70 000 Patienten in Deutschland mit Substitutionsmedikamenten behandelt werden, so ist das auch ihm zu verdanken. Nach dem faktischen Verbot der Behandlung mit L-Polamidon hat er die Behandlung mit Dihydrocodein schon in den 70er Jahren eingeführt, weil er durch intensives Studium der internationalen Literatur und seine eigenen Beobachtungen als einer der ersten in Deutschland sah, wie notwendig und wirksam die Substitutionsbehandlung ist. Er war über die damit zu erzielenden Behandlungserfolge so begeistert, dass er ein Buch „Die Lösung des Drogenproblems” verfasst hat. Dieses Buch war ein Meilenstein in der deutschen Fachliteratur zum Thema Drogen. Sein Titel „Die Lösung…” schien das ganze Buch zu entwerten. Aber wer es wagte, Heroinabhängige so zu behandeln, sah genau wie er die Besserung bei seinen Patienten.

„Die Lösung” hätte es vielleicht wirklich gegeben, wären Fachwelt und Gesellschaft ihm gefolgt statt ihn zu verstoßen. Für ihn waren Suchtkranke nicht Menschen 2. Klasse, die man ständig mit einem entwürdigenden Paket von Sicherheitsrichtlinien kontrollieren muss. Die Knebelung durch betäubungsmittelrechtliche Vorschriften war ihm zutiefst zuwider, und das nicht etwa, wie viele meinen, weil er hoffnungslos naiv, unstrukturiert und unangemessen liberal gewesen wäre. Sein Behandlungsansatz war ärztlich: Er fragte nach den Bedürfnissen seiner Patienten und versuchte, im Rahmen fundierter Konzepte, seine Behandlung danach auszurichten.

Das gelang sicher nicht immer, aber vielen Patienten hat er das Leben gerettet und ein menschenwürdiges Leben ermöglicht. Die massiven Angriffe auf seine Behandlung kamen von denen, denen die visionäre Größe seiner neuen Ansätze verschlossen blieb, deren Konzept sich als unwirksam erwiesen hatte oder denen die Behandlung zu teuer war. Über viele Jahre wurde versucht, seine Behandlung zu diskreditieren. In unzähligen Prozessen musste er sich verteidigen.

Es war Ausdruck seines Bestrebens nach Struktur und Systematik, dass er 1991 zu den zehn Gründungsmitgliedern der Deutschen Gesellschaft für Drogen- und Suchtmedizin (jetzt Deutsche Gesellschaft für Suchtmedizin) gehört hat. Auch damit hat er Geschichte geschrieben. Die spätere Entwicklung erfüllte ihn mit großer Sorge. Immer wieder diskutierte er mit uns die Einführung des Dihydrocodein-Saftes – notwendig, weil die Krankenkassen sich weigerten, die Kosten für die sicheren retardierten Kapseln zu übernehmen. Mit den von ihm verordneten Kapseln erlebte er die „Codeintoten” nicht, die in den 90er Jahren zunehmend Schlagzeilen machten und die 1998 zum weitgehenden Verbot des Dihydrocodeins führten. Er hatte mit den Fehlentwicklungen, die zu Todesfällen geführt hatten, nicht das Geringste gemein.

Trotz aller Angriffe blieb er ein Visionär. In seinem Buch „Drogen gegen Drogen” hat er Anfang der 90er Jahre aufgezeigt, dass medikamentöse Behandlungen weit mehr als bloße Substitution und nicht nur bei Heroinabhängigkeit möglich sind. Er gehörte zu den seltenen Ärzten, die bereit sind, aus ihren Beobachtungen systematische, bahnbrechend neue Schlüsse zu ziehen. So war ihm aufgefallen, dass einige seiner Patienten ihre Alkoholabhängigkeit mit Dihydrocodein gut beherrschen konnten. Auch hier war und ist der Widerstand groß, weil die medikamentöse Behandlung von Sucht noch immer als Notlösung gilt und weil die ärztliche Beobachtungsfähigkeit in Zeiten großer Studien und evidenzbasierter Medizin nicht mehr viel gilt.

Er nahm Verbindung zur Universität auf, um seine Behandlungsdokumentationen evaluieren zu lassen. Bis zuletzt hoffte er, dass diese Arbeiten bald publiziert würden und die neue Qualität seiner Ansätze bestätigen könnten. Er hat es nicht mehr erlebt, stattdessen viel Entwürdigendes, auch seitens des wissenschaftlichen Kooperationspartners.

Gorm Grimm war ein beeindruckender Mensch: Diese Mischung aus intensiver, empathischer Patientenzuwendung, systematischem Kampf für Verbesserungen in der Medizin und immer wieder auch dem Rückzug, um z. B. am Klavier ein Stück von Bach oder Mozart zu spielen. Dvorak liebte er besonders. Es war erstaunlich, wie ruhig und weitherzig er trotz vieler ungerechtfertigter Angriffe seine Ansichten vertrat und wie viel von seiner aufrichtigen Heiterkeit er sich auch im vorzeitig erzwungenen Ruhestand bewahren konnte. Sicher haben ihm die Liebe zur Musik, das Interesse an Philosophie und Religion dabei geholfen.

Seine visionäre Größe wurde zu Lebzeiten nur von wenigen gesehen. Stattdessen sah man in ihm erst den Pionier („wer zu früh kommt, den bestraft das Leben”), dann den Außenseiter. Man sah das Naive, das vermeintlich Unstrukturierte, das Grenzüberschreitende. Natürlich machen Pioniere Fehler. Aber Pioniere, die wagen, Regeln zu überschreiten, bringen den Fortschritt manchmal viel mehr als Bürokraten, die Regeln aufstellen. In der Medizin bedeutet Fortschritt: bessere Behandlung von Kranken – und dazu hat Gorm Grimm entscheidend beigetragen.

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