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DOI: 10.1055/s-0028-1090073
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
Gesundheitsverhalten und Psychotherapie: Möglichkeiten und Grenzen
Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
11. Dezember 2008 (online)
Gesundheitsverhalten gehörte bisher nicht unbedingt zu den zentralen Themen in der Psychotherapie. In Gesprächen mit Kolleginnen und Kollegen oder in Supervisionssitzungen wurden Themen wie Nikotinabhängigkeit, Übergewicht und Bewegungsmangel eher als Nebenkriegsschauplätze angesehen, welche die Gefahr mit sich brachten, die Aufmerksamkeit vom „zentralen Problem” des Patienten abzulenken. Hinzu kommt, dass es wenig finanzielle Anreize gibt, sich mit dieser Problematik zu befassen. Die Kostenträger im Gesundheitswesen tun sich immer noch schwer mit der Finanzierung von Maßnahmen zu Prävention und Behandlung von Adipositas – hier liegt z. B. im Vergleich zur Alkoholabhängigkeit eine Ungleichbehandlung vor. Raucherentwöhnung wird von den Kostenträgern immer noch gerne in den Bereich der Volkshochschulkurse geschoben.
Die Beiträge in diesem Heft zeigen jedoch, dass auch vonseiten der Psychotherapie ein wachsendes Interesse besteht, den Ball aufzunehmen, den uns die Politik mit einer zunehmenden Betonung der Prävention im Gesundheitswesen zuspielt. Die Beiträge von Herpertz und de Zwaan, Peukert und Batra, Becker et al., der Heidelberger Arbeitsgruppe um W. Hain sowie von Pötschke-Langer et al. zeigen, dass sowohl für die Adipositas als auch für die Nikotinabhängigkeit zumindest kurz- und mittelfristig effektive psychotherapeutische Behandlungsverfahren vorliegen. Gleichzeitig wird aber vor allem für die Adipositas deutlich, dass diese Erfolge nur vorübergehender Natur sind. Die überwiegende Mehrzahl der Betroffenen hat nach spätestens fünf Jahren wieder ihr Ausgangsgewicht erreicht. Somit erweist sich Adipositas eher als chronische Erkrankung, die in den meisten Fällen nicht „heilbar” ist. Es ist daher zu erwarten, dass in zukünftigen Versorgungskonzepten und Leitlinien zur Prävention und Behandlung von „Volkskrankheiten” wie Diabetes und koronare Herzkrankheit Psychoedukation und -therapie eine bedeutendere Rolle einnehmen werden als bisher. Deutlich wird aber auch, dass sowohl die (Psycho-)Therapieforschung als auch die politischen Entscheidungsträger Konzepte entwickeln müssen, die in stärkerem Maße als bisher die Langzeitperspektive im Blick haben.
Lubenow, Worringen und Korsukéwitz zeigen, dass es möglich ist, ein psychoedukatives Programm zum Gesundheitsverhalten in der Versorgungspraxis zu implementieren: Am Gesundheitstraining haben bisher ca. 1,6 Mio. Rehabilitanden teilgenommen. Daten zu den hieraus resultierenden Verhaltensänderungen stehen freilich noch aus und werden mit Spannung erwartet.
Meyer et al. verdeutlichen mit ihrem Beitrag zu Bewegung und Ausdauertraining eine Wechselwirkung zwischen seelischer Gesundheit und Gesundheitsverhalten, die bisher noch zu wenig als Ressource genutzt wird. Wenn es gelingt, Patienten zu mehr körperlicher Aktivität im Sinne von Ausdauertraining zu motivieren, verbessert dies eben nicht nur die körperliche Fitness, sondern hat eine direkte Rückwirkung auf die Lebensqualität und das psychische Befinden. In kontrollierten Studien konnte nachgewiesen werden, dass Ausdauertraining bei Patienten mit leicht- und mittelgradiger Depression ähnliche Effekte erzielt wie Antidepressiva.
Ein möglicher Grund, warum sich Psychotherapeuten mit dem Thema Gesundheitsverhalten gewöhnlich schwertun, liegt vielleicht darin, dass entsprechende Interventionen schnell mit Paternalismus, Bevormundung und Besserwisserei in Verbindung gebracht werden. Dass sich hier viel geändert hat, zeigen Lauterbach aus der systemischen und Köllner aus der lerntheoretischen Perspektive. Sowohl der systemische Ansatz des Gesundheitscoachings als auch in der Verhaltensmedizin zunehmend verbreitete Ansätze wie das Veränderungsprozessmodell und die motivierende Gesprächsführung erkennen die Autonomie des Patienten als Grundlage des therapeutischen Handelns ausdrücklich an und beginnen konsequenterweise damit, mit dem Patienten gemeinsam Bereiche zu entdecken, in denen er Veränderungsmotivation mitbringt, um hieraus dann im Sinne des Selbstmanagements Ziele für eine Intervention abzuleiten. Es gibt bereits erste Belege dafür, dass ein solches Vorgehen, welches den Patienten mit ins Boot holt, alten, eher pädagogisch ausgerichteten Konzepten der Verhaltensmodifikation vor allem in der langfristigen Wirksamkeit überlegen ist.
Petrak beleuchtet den Zusammenhang zwischen seelischer und körperlicher Gesundheit aus einer anderen Perspektive am Beispiel des Diabetes mellitus. Die Komorbidität von Depression und Diabetes verschlechtert die Prognose. Die Stoffwechselkontrolle ist unzureichend mit der Folge von Spätschäden an den Augen, der Niere oder der Nerven und schließlich einer erhöhten Mortalität. Neben zu vermutenden psychobiologischen Erklärungsansätzen verhindert die Depression ein im Sinne der Sekundärprävention so bedeutsames Gesundheitsverhalten wie gesunde Ernährung, ausreichende körperliche Aktivität und insbesondere Raucherentwöhnung.
Nach aktuellem Forschungsstand stellen psychotherapeutische und psychopharmakologische Therapieansätze auch bei Diabetikern effektive Möglichkeiten der Depressionstherapie dar. Die Entwicklung einer speziell auf die Bedürfnisse depressiver Diabetiker ausgerichteten Psychotherapie steht jedoch noch aus. Der Zusammenhang zwischen Depression und Diabetes ist auch aus einer anderen Sicht relevant: Wie im Standpunkte-Beitrag sowohl von Lütz als auch von Rüddel gezeigt, ist Gesundheit kein Wert an sich, sondern eigentlich nur eine Voraussetzung dafür, dass wir Dinge verwirklichen können, die für uns von Bedeutung sind. Für Menschen, die unter einer Depression leiden, ist es schwerer, eine solche Orientierung zu finden, und möglicherweise macht es für sie daher auch weniger Sinn, sich um Gesundheit zu bemühen. Die Stärkung des Kohärenzgefühls in der Psychotherapie kann daher eine notwendige Voraussetzung für eine Verbesserung des Gesundheitsverhaltens sein.
Ein rein indvidiuumzentrierter Ansatz zur Verbesserung des Gesundheitsverhaltens hat jedoch Grenzen und vor Selbstüberschätzung des eigenen Einflusspotenzials kann nur gewarnt werden. Twork und Kugler weisen eindrucksvoll geschlechtsspezifische Unterschiede beim Gesundheitsverhalten nach. Vor- und Nachteile dieses unterschiedlichen Verhaltens sind hierbei differenziert zu sehen: Während Frauen insgesamt eine höhere Lebenserwartung haben, ziehen Männer wieder gleich, wenn es um die beschwerdefreien Lebensjahre geht. Der Genderaspekt sollte bei der Planung von therapeutischen Interventionen oder Aufklärungskampagnen zum Gesundheitsverhalten berücksichtigt werden. Noch schwerer wiegt der Einfluss des sozioökonomischen Status auf Gesundheitsverhalten und Gesundheitschancen. Siegrist leitet hieraus die Forderung ab, dass es Aufgabe präventiver Bemühungen sein muss, diese Ungleichheit zu verringern. Präventionen hierzu können sowohl bevölkerungsbezogen sein als auch am Behandlungssetting oder am Individuum ansetzen.
Die Grenzen psychoedukativer und psychotherapeutischer Bemühungen werden auch deutlich, wenn man sich klarmacht, welcher geballten Werbe- und Medienmacht sie entgegensteuern müssen und wie schwer es der Politik fällt, notwendige Maßnahmen z. B. zum Schutz Jugendlicher vor Alkohol und Nikotinabhängigkeit gegen Lobbyinteressen durchzusetzen. Als einer der Herausgeber kürzlich ein Interview zum Thema „Was kann ich tun, um auch im Alter gesund zu sein?” gab, wurde ihm recht deutlich klargemacht, dass eine Aussage zum Thema Rauchen hier nicht gewünscht wird und aus „Zeitgründen” in der Endfassung des Beitrages sicher nicht auftauchen würde. In diesem Zusammenhang fällt das Medienecho auf, das die Gefährdung von Arbeitsplätzen in der Gastronomie durch das Rauchverbot findet, während über die beachtlichen Rückgänge von Herz- und Lungenerkrankungen bei Beschäftigten und Besuchern der Gastronomie in Ländern, die Rauchverbote bereits umgesetzt haben, kaum berichtet wird. Hier deutet sich eine völlig neue Gesundheitsdefinition an: „Gesund ist, was dem Profit nicht schadet.” Ungünstiges Gesundheitsverhalten muss nicht unbedingt aus einer freien Entscheidung resultieren, sondern kann auch Folge einer hochdifferenzierten und effektiven psychologischen Intervention sein, welche allerdings nicht von Psychotherapeuten, sondern eher von Werbe- und Verkaufspsychologen geplant und durchgeführt wird. In diesem Sinne hat Psychotherapie im Bereich Gesundheitsverhalten sehr wohl eine emanzipatorische Funktion.
Gesundheitsverhalten ist also ein spannendes und in der zukünftigen Versorgungslandschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit zunehmend bedeutsames Arbeitsfeld für Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten. Neuser weist in unserem Interview darauf hin, dass sich die Psychotherapie inzwischen als Gesundheitsberuf etabliert hat, wobei dies auch erfordert, mit den anderen Berufsgruppen in diesem Feld zu kommunizieren und zu kooperieren. Dies gilt in besonderem Maße für therapeutische Interventionen zum Gesundheitsverhalten, deren Effektivität insbesondere durch die Kooperation mit anderen ärztlichen Disziplinen, aber auch anderen Heilberufen wie Physiotherapeuten / innen, Sporttherapeuten / innen und Ernährungsberater / innen gesteigert werden kann. Aber möglicherweise liegt hierin ja auch eine besondere Attraktivität dieses Arbeitsfeldes.