PiD - Psychotherapie im Dialog 2008; 9(4): 317-318
DOI: 10.1055/s-0028-1090055
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Gesundheitsverhalten und Psychotherapie

Stephan  Herpertz, Volker  Köllner
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
11. Dezember 2008 (online)

Das Thema Gesundheitsverhalten rückt unter verschiedenen Aspekten zunehmend in das öffentliche Bewusstsein. Ein Aspekt ist der teilweise erbittert geführte Streit um Rauchverbote in öffentlichen Einrichtungen und Gaststätten, wobei auffällt, dass Deutschland hinsichtlich Nichtraucherschutz und Nikotinfreiheit zunehmend hinter die Standards anderer europäischer Länder zurückfällt. In Deutschland sterben jedes Jahr 110 000–140 000 Menschen an den Folgen des Rauchens und ca. 3 300 an den Folgen des Passivrauchens. Erschrecken löste auch der Befund aus, dass die Deutschen inzwischen die „dicksten Europäer” sind. In Deutschland zeigt sich, dass über die Hälfte der Bevölkerung mindestens übergewichtig, ca. 20 % als adipös zu bezeichnen sind. Nur etwa ein Drittel der männlichen Bevölkerung ist noch normalgewichtig. Der prozentuale Anteil übergewichtiger und adipöser Menschen in der Bevölkerung der westlichen Industrieländer nimmt seit einigen Jahrzehnten stetig zu. Adipositas ist nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation inzwischen weltweit das größte chronische Gesundheitsproblem.

Obwohl Gesundheit als „höchstes Gut” gepriesen wird und die Gesundheitswirtschaft boomt, setzen sich in unserer Gesellschaft offensichtlich Verhaltensmuster durch, welche die Gesundheit schädigen. Als eine Reaktion auf diese alarmierende Entwicklung plant die Bundesregierung, in einem Präventionsgesetz die Prävention neben Akutbehandlung, Rehabilitation und Pflege als vierte Säule im Gesundheitswesen zu etablieren. Maßnahmen und Ziele sollen in einem nationalen Rehabilitationsrat erarbeitet werden, dem auch VertreterInnen der Bundesärztekammer und der Kammer der psychologischen Psychotherapeuten angehören sollen. Insgesamt sollen Mittel in der Größenordnung von 300 Mio. € / Jahr bereitgestellt werden.

Gesundheitsförderung und Prävention sollen dazu beitragen, sozial- oder geschlechtsspezifisch ungleiche Gesundheitschancen abzubauen und benachteiligte Personengruppen und Personen in Lebenslagen zu erreichen, die besondere Gesundheitsrisiken aufweisen und die bislang von Präventionsangeboten und Maßnahmen der Gesundheitsförderung kaum erreicht wurden. Eine zunehmend wichtigere Aufgabe für Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten wird es also, Menschen bei der Verbesserung ihres Gesundheitsverhaltens zu unterstützen. Klar ist aber auch, dass solche individuumzentrierten Ansätze nur einem Teilaspekt dieser Problematik gerecht werden können.

Das Gesundheitsverhalten ist Ausdruck eines Bildungs- und Erziehungsprozesses, in den individuelle, gesellschaftliche und kulturelle Aspekte einfließen. Bildung und Erziehung entscheiden maßgeblich über den Lebensstil und die Lebensführung eines Menschen. Insbesondere für die bekannten chronischen Krankheiten, wie Diabetes, koronare Herzkrankheit oder Kreuzschmerz wird die Lebensführung und die in sie eingebettete Struktur des Gesundheitsverhaltens als ausschlaggebend postuliert. Es hat den Anschein, dass mit dem Verschwinden der großen Epidemien und Pandemien der Infektionskrankheiten in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts eine Individualisierung von Krankheit und somit auch Gesundheit stattgefunden hat. „Ein” Mensch erkrankt an „einem” Diabetes oder „einem” Bronchialkarzinom, obwohl vier Millionen Menschen in Deutschland an Diabetes erkranken und fast eine Million Menschen an Krebs.

So liegt es nahe, dem individuellen Gesundheitsverhalten eine größere kausale, da präventive Bedeutung zu geben, verbunden mit der Frage, ob ein „gesünderes” Gesundheitsverhalten den Diabetes (Normalgewicht durch kalorienärmere Ernährung und körperliche Aktivität) oder das Bronchialkarzinom (Nikotinabstinenz) verhindert hätte. Interventionen zur Krankheitsverhütung sind ohne Zweifel immer besser als Maßnahmen zur Heilung, denn Erstere werden am und von gesunden Menschen vollzogen und sind somit in der Lage, sowohl Kosten als auch menschliches Leid zu verhindern, während Letztere erst am kranken Menschen greifen. Die Frage, ob sie gesundheitsökonomischer sind, wird kontrovers diskutiert. So halten zum Beispiel viele Dogmen der modernen, sogenannten gesunden Ernährung einer kritischen Überprüfung nicht stand. Auch wird häufig übersehen, dass zum Beispiel selbst gut untersuchte und wirksame Maßnahmen zur Früherkennung von Krebs nur für sehr wenige Menschen von Nutzen sind.

Der Begriff „Gesundheitsverhalten” impliziert den Glauben an die individuelle Chance, durch eine scheinbar objektivierbare Lebensführung Krankheit zu vermeiden und letztendlich Leben zu verlängern. Aberglaube oder schon Realität, individuelle Verantwortung bzw. Verantwortungslosigkeit? Kontrovers und jenseits von Zahlen und Statistiken diskutieren die beiden Autoren Lütz und Rüddel dieses Thema und beiden gelingt es, die Diskussion an den Leser weiterzureichen. Beflügelt wird die Kontroverse durch den Beitrag von Frieling und Bleich: die (Epi-)Genetik stellt weniger ein Fatum dar, sondern sie interagiert mit der Umwelt, sie markiert Spielräume bzw. Potenziale, innerhalb derer menschliches Verhalten entsteht und erklärbar wird.

Zweifelsohne lassen Gesundheit bzw. Gesundheitsverhalten eher an physisches Wohlergehen denken. Auch dürften Begrifflichkeiten wie „Gesundheitsverhalten” oder „Psychohygiene” in der psychotherapeutischen Versorgung wie Forschung eher die Ausnahme als die Regel sein, obwohl letzterer Begriff schon vor mehr als 100 Jahren von dem Gießener Psychiater R. Sommer kreiert wurde und u. a. „die Sorge für die Erhaltung der geistigen Gesundheit, Verhütung von Geistes- und Nervenkrankheiten und Defektzuständen” beschrieb. Mehr als 60 Jahre später sah K. Mierke (1967) die Aufgaben der kurativen Psychohygiene in der Behandlung „bereits bestehender Einschränkungen, um diese mit klinischen oder psychotherapeutischen Verfahrensweisen zu heilen”.

Vielleicht löste gerade bei den tiefenpsychologisch ausgerichteten Psychotherapeutinnen und -therapeuten Gesundheitsverhalten und die begriffliche Nähe zur Gesundheitserziehung ein Unbehagen in der Vergangenheit aus. Auch die tradierte „Scheu” der Psychotherapie vor dem Körper und der Organmedizin mag hier eher die Distanz als die Nähe betont haben, die in der kuriosen Unterscheidung zwischen „Körperarzt” und Psychotherapeut ausgerechnet in der Psychosomatischen Medizin in Deutschland gipfelte. Von daher ist es begrüßenswert, dass die noch in den letzten Jahrzehnten vorherrschende Dichotomie von biologischem und psychologischem Denken zunehmend verblasst. Für diese Entwicklung ist u. a. unser wachsendes Wissen über neuronale, humorale und immunologische Mechanismen der Plastizität des menschlichen Gehirns verantwortlich, auf die sich zum Beispiel die Verhaltensmedizin „als die Anwendung verhaltenstherapeutischer Methoden in der Medizin” vor mehr als 30 Jahren gründete, der gegenüber sich aber auch moderne Richtungen der Psychoanalyse zunehmend öffnen (siehe gemeinsamer Diskussionsbeitrag von M. Leuzinger-Bohleber, E. Kandel und W. Singer, „scobel” 24.4.2008, 3SAT).

Über kurz oder lang wird uns aber „Gesundheitsverhalten”, egal ob mit physischer oder psychischer Akzentuierung in der psychotherapeutischen Versorgungsrealität einholen. Die großen (chronischen) Volkskrankheiten wie koronare Herzkrankheit, Diabetes mellitus oder auch Depression werden nicht vor unserem Wartezimmer Halt machen. Sie sind aber auch wichtiger Bestandteil der Biografie oder aktuellen Lebenssituation vieler unserer Patienten und haben, wie Herpertz und de Zwaan in ihrem Beitrag herausstellen, einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die therapeutische Beziehung und ihren immanenten Übertragungs- und Gegenübertragungsprozesse.

Chronische Krankheiten zeigen auch für die Psychotherapie Grenzen auf. Der moderne Glaube an die uneingeschränkte Machbarkeit eigener Gesundheit ist weder für den chronisch kranken Patienten noch für den Psychotherapeuten länger lebbar. Wie der Beitrag von Petrak zeigt, wissen wir heute, dass depressive Störungen nicht nur die Lebensqualität, sondern auch die Prognose einer chronischen Krankheit wie KHK oder Diabetes mellitus deutlich verschlechtern. Neben noch weitgehend unerforschten psychobiologischen Zusammenhängen zeichnen sich depressive Menschen durch ein problematisches Gesundheitsverhalten wie ungesunde, hyperkalorische Ernährung, wenig körperliche Bewegung und Rauchen aus, welches die Prognose einer KHK oder eines Diabetes mellitus maßgeblich verschlechtert. Umgekehrt dürfte für die Herz-, Kreislauf- bzw. Stoffwechselerkrankung eine erfolgreiche Psychotherapie der Depression u. a. via Verbesserung des Gesundheitsverhaltens prognostisch von Bedeutung sein.

Voraussetzung jeder Psychotherapie ist ein Grundwissen des Patienten, seiner sozialen Bezüge, seiner familiären und partnerschaftlichen Beziehungen, seiner sozioökonomischen und beruflichen Bedingungen, schließlich auch seiner Wünsche und Ziele, die er mit der Psychotherapie verbindet. Es liegt auf der Hand, dass auch das Wissen um die chronische Erkrankung des Patienten und des damit in der Regel verbundenen nicht selten komplexen Behandlungsmanagements für die Psychotherapie eine unabdingbare Voraussetzung darstellt. Hier wäre auch die Frage der Ausbildungsinhalte für ärztliche wie psychologische Psychotherapeuten berührt, aber diese Frage wird sicherlich eines Tages eine andere Ausgabe der PiD behandeln …