Gesundheitswesen 2008; 70 - A250
DOI: 10.1055/s-0028-1086475

Data Mining in ICF-basierter Dokumentation zur Definition von Hausstandards

R Kaluscha 1, A Leitner 1, E Jacobi 1
  • 1Forschungsinstitut für Rehabilitationsmedizin an der Universität Ulm

Fragestellung: Behandlungsstandards können aus verschiedenen Informationsquellen gespeist werden. Neben wissenschaftlichen Ergebnissen („Evidenzbasierung“) oder Expertenrunden („Eminenzbasierung“) kann auch Erfahrungswissen aus der bisherigen Praxis genutzt werden. Hier kann etwa in vorhandenen Behandlungsdaten nach Beziehung zwischen Diagnosen bzw. ICF-basierten Deskriptoren und therapeutischen Leistungen gesucht werden („Data Mining“). Solche empirisch aufgefundenen Zusammenhänge könnten dann in Hausstandards oder klinische Pfade aufgenommen werden. Methodik: In der Rheumaklinik Bad Wurzach werden 146 ICF-basierte Deskriptoren, die in einer Machbarkeitsstudie [2] als relevant für die Rehabilitation des Bewegungsapparates identifiziert wurden, für die Dokumentation genutzt. Der Arzt teilt dabei aus diesem Pool die für den Rehabilitanden wichtigsten Deskriptoren zu und beurteilt unscharf den Schweregrad des Zustandes auf einer Skala von 0–100 bei Aufnahme, bei Einschätzung des Reha-Ziels und bei Entlassung. [1] Die hier verwendeten Deskriptoren dienen nur als Beispiel grundsätzlich kann und sollte jede Einrichtung einen auf ihre Patienten und ihr Therapiespektrum zugeschnittenen individuellen Deskriptoren-Pool verwenden. Die Deskriptoren, die Diagnosen nach ICD sowie die durchgeführten Therapien der Jahre 2006 und 2007 wurden aus dem Klinikinformationssystem anonymisiert in eine Oracle-Datenbank eingespeist. Die Leistungen aus dem Jahr 2006 wurden dazu von KTL2000 nach KTL2007 (Klassifikation therapeutischer Leistungen, [3]) umgesetzt. Sowohl ICD-Diagnosen als auch KTL-Codes wurden auf die ersten drei Stellen gekürzt. Für 2.916 Rehabilitanden der Rentenversicherung liegen vollständige Daten vor, für weitere 1.510 Patienten der Krankenversicherung Diagnosen und KTL-Leistungen. Die größten Gruppen sind dabei Rehabilitanden mit Rückenschmerzen und Endoprothetik (Knie-TEP, Hüft-TEP). Für alle Items (Deskriptoren, Diagnosen, Leistungen), die mindestens 100mal auftraten, wurden die absoluten und relativen Häufigkeiten sowie für alle Item-Paare die bedingten Wahrscheinlichkeiten und das „relative Risiko“ errechnet. So wurde z.B. bei 1.117 (25,2%) der Rehabilitanden die Haupt- oder Nebendiagnose ICD-E66=Adipositas genannt; 1.822 (41,2%) erhielten die Leistung KTL-M01=Diätkost. 877 Rehabilitanden wiesen beide Merkmale auf. 48,0% der Rehabilitanden mit Diätkost waren adipös („relatives Risiko“: 48,0%/25,2% =1,9); umgekehrt erhielten 78,3% der Adipösen Diätkost („relatives Risiko“: 78,3%/41,2%=1,9). Durch diese Kenngrößen lässt sich also ermitteln, ob bei einer bestimmten Erkrankung häufig eine bestimmte therapeutische Leistung verordnet wird oder ob eine bestimmte Leistung typisch für eine bestimmte Erkrankung ist. Durch die Erweiterung mit ICF-basierten Deskriptoren wird dies um Beeinträchtigungen von Funktion und Teilhabe ergänzt, die weder in der ICD noch in der KTL abgebildet sind. Hier stellt sich auch die Frage, ob die ICF-basierten Deskriptoren oder die ICD-Diagnosen für die verordnete Therapie spezifischer sind. Sofern sich stringente Zuordnungen ergäben, könnten diese die Grundlage für klinische Pfade oder Therapiemodule bilden. Ergebnisse: Es finden sich relativ wenige stringente Zuordnungen von ICD-Diagnose zu KTL-Leistung; z.B. KTL-A03=Muskelaufbautraining bei Rückenschmerzen. Die ICF-Deskriptoren erweisen sich als ebenso spezifisch wie die ICD-Diagnosen; bei bestimmten Therapien sogar spezifischer: so sagt z.B. der Deskriptor VSP=„Verspannung/Muskelsteifigkeit“ (ICF b7800) die KTL-Leistung C18=„Schulung bei chronischem Schmerz“ am besten voraus, bei KTL-F08=„Autogenes Training“ liegt er mit ICD-F32=„Depressive Episode“ praktisch gleichauf. Diskussion: Die Therapie erscheint in der Rehabilitation deutlich variabler und individueller als in der Akutmedizin, so dass sich der Ansatz der „klinischen Pfade“, der vor allem in der Chirurgie genutzt wird, nicht 1:1 übernehmen lässt. Dies ist angesichts des komplexeren Auftrages (Verbesserung der Teilhabe, Selbstversorgung, Erwerbsfähigkeit, etc. in der Reha vs. z.B. Entfernung der Gallenblase in der Chirurgie) auch nicht verwunderlich. Erschwerend kommt noch hinzu, dass die ICD die konservativ und die operativ behandelten Arthrosen nicht unterscheidet: Coxarthrose wird z.B. in beiden Fällen mit M16.- kodiert. Auch wenn der klassische klinische Pfad für die Rehabilitation nicht gangbar sein dürfte, kann doch ein modularer Aufbau der Therapie sinnvoll sein. Grundmodule ergeben sich dabei aus den o.a. wenigen stringenten Zusammenhängen zwischen Diagnosen und Leistungen, Zusatzmodule könnten halbautomatisch durch ICF-Deskriptoren getriggert werden. So könnten einerseits hausspezifische Gepflogenheiten und Leitlinien sowie andererseits standardisierte Verordnung nach Leitlinie und individuelle Verordnung unter einen Hut gebracht werden. Die Nutzung einer ICF-basierten Dokumentation zur Unterstützung der Erstellung von Therapieplänen kann also die Arbeit in der Reha-Klinik erleichtern. Desweiteren erlaubt die individuelle Zuteilung relevanter Deskriptoren und ihre unscharfe Gradierung durch die Dokumentation individueller Problemlagen auch eine individuelle zielorientierte Ergebnismessung, so dass weitere Erhebungen für das Qualitätsmanagement entbehrlich sind.

Literatur:

[1] Kaluscha R, Leitner A, Jacobi E. Praxisorientierte Dokumentation und Assessment auf ICF-Basis: Unscharfe Gradierung und Begriffskombination.1. Niedersächsisches ICF-Anwendersymposium. Hannover, 26.09.2006

[2] Jacobi E, Leitner A, Kaluscha R. Die Messung der Teilhabestörung nach SGB IX: Eine Multicenterstudie zur Machbarkeit. Phys Med Rehab Kurort 2005: 15

[3] Deutsche Rentenversicherung. KTL – Klassifikation therapeutischer Leistungen; http://www.deutsche-rentenversicherung.de