Gesundheitswesen 2008; 70 - A249
DOI: 10.1055/s-0028-1086474

Praktischer Nutzen der ICF im Zusammenspiel mit Leitlinien und Hausstandards

R Kaluscha 1, A Leitner 1, E Jacobi 1
  • 1Forschungsinstitut für Rehabilitationsmedizin an der Universität Ulm

Fragestellung: Für die Rehabilitation ist die internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (International Classification of Functioning, Disability and Health, kurz: ICF) sicherlich ebenso bedeutend wie die internationale Klassifikation der Krankheiten (ICD). Akzeptanz wird die ICF in der Praxis aber wohl nur finden, wenn sie einerseits einen Nutzen für Therapeuten und Patienten verspricht und andererseits keine spürbare Mehrbelastung bedeutet. Das Forschungsinstitut für Rehabilitationsmedizin an der Universität Ulm beschäftigt sich daher seit längerem mit der Frage, wie die ICF besseren Eingang in die Reha-Praxis finden kann. Dabei soll die Verwendung der ICF kein Selbstzweck sein, sondern den Reha-Prozess unterstützen und die Arbeit erleichtern. Wenngleich die ICF für den unmittelbaren praktischen Einsatz zu unhandlich ist [1], bietet sie doch einen wertvollen konzeptionellen Rahmen und einen auch praktisch nutzbaren Item-Pool. So kann z.B. auf ICF-Basis das Erstgespräch mit dem Rehabilitanden strukturiert und gemeinsam ein Therapieplan erarbeitet werden. Mit entsprechender EDV-Unterstützung können dabei die Vorgaben aus Hausstandards (Therapiemodule, „klinische Pfade“ etc.) oder Leitlinien berücksichtigt werden. Hier ist aber nicht etwa an ein Expertensystem für die Verordnung von Therapien („Computer in weiß“) gedacht, sondern an eine computergestützte Ausfüllhilfe, um das händische Ausfüllen von Verordnungsformularen zu vermeiden und den bürokratischen Aufwand zu reduzieren. Methodik: In einer Machbarkeitsstudie [2] wurden 146 reha-relevante Sachverhalte für die Rehabilitation des Bewegungsapparates identifiziert und ihnen leicht zu erlernende mnemonische Drei-Letter-Codes sowie die entsprechenden Codes aus ICD und ICF zugeordnet. Diese Items dienen hier nur als Beispiel; prinzipiell kann jede Einrichtung einen auf ihre Patienten und ihr Therapiespektrum zugeschnittenen individuellen Item-Pool verwenden. Diese Items, die Therapien aus der Klassifikation therapeutischer Leistungen (KTL, [3]) sowie Therapiemodule und Einzelleistungen der Prozessleitlinien der Deutschen Rentenversicherung für die medizinische Rehabilitation [4] wurden in eine Datenbank eingespeist. Nun bestehen zwischen den Items und den Leitlinien bzw. Therapien inhaltliche Beziehungen, die in der Datenbank ebenfalls prototypisch modelliert wurden: so deutet etwa die Auswahl des Items LIA=Lumboischialgie (ICD M54.4) darauf hin, dass der Patient unter die Leitlinie „Rückenschmerz“ fällt, so dass deren Therapiemodule in den Therapievorschlag übernommen werden. Die Ausgestaltung der eher abstrakten Therapiemodule durch konkrete Therapien kann nun durch klinikeigene Standards, die ausgewählten Items und/oder individuelle Verordnung durch den Arzt geschehen. Wird z.B. auch das Item STR=Stress (ICF d2401) ausgewählt, liegt es nahe, ein Stressbewältigungstraining (KTL C084) im Therapiemodul „Information und Motivation“ (ETM05) vorzusehen. Aus diesem halbautomatischen Therapievorschlag erstellt nun der Arzt durch Ergänzen (z.B. bei Komorbiditäten) oder Weglassen (z.B. bei individuellen Kontraindikationen oder Abneigungen) den endgültigen Therapieplan. Da auch noch andere Aspekte wie eine adäquate Therapiedichte oder Wirtschaftlichkeit zu berücksichtigen sind, erfordert dies komplexe Abwägungen, die nicht automatisiert ablaufen können, sondern nach wie vor durch den Arzt erfolgen müssen. Auf Basis einer Oracle-Datenbank (10g Express Edition) wurde ein browsergestützter Prototyp realisiert. Arzt und Rehabilitand können für den individuellen Fall eine beliebige Anzahl relevanter Items aus dem Pool auswählen und eine unscharfe Gradierung (Beurteilung) des Schweregrades vornehmen sowie Zielwerte vorgeben. Falls eine Leitlinie greift, wird unter Berücksichtigung der ausgewählten Items ein entsprechender Therapievorschlag erstellt. Ergebnisse: Ein Prototyp ist als Demo-Version im Internet verfügbar: http://www.icf-portal.de (deutsch) bzw. http://www.icf-portal.org (englisch). Diskussion: Die Nutzung einer ICF-basierten Dokumentation für die routinemäßige Erstellung von Therapieplänen kann die Arbeit in der Reha-Klinik erleichtern. Ein wichtiger Erfolgsfaktor ist dabei die Integration in vorhandene Klinikinformationssysteme (KIS) und Arbeitsabläufe. Trotz Leitlinien und EDV-Unterstützung wird aber weiterhin der Arzt unter Berücksichtigung vieler Randbedingungen (Komorbiditäten, Kontraindikationen, Präferenzen/Abneigungen/Erwartungen des Rehabilitanden, Therapiedichte, Wirtschaftlichkeit etc.) individuell die Therapie verordnen müssen. Des Weiteren erlaubt die individuelle Zuteilung relevanter Deskriptoren entsprechend der Beeinträchtigungen und ihre unscharfe Gradierung auch eine individuelle zielorientierte Ergebnismessung, so dass weitere Erhebungen für das Qualitätsmanagement entbehrlich sind.

Literatur:

[1] Kaluscha R, Leitner A, Jacobi E. Praxisorientierte Dokumentation und Assessment auf ICF-Basis: Unscharfe Gradierung und Begriffskombination. 1. Niedersächsisches ICF-Anwendersymposium. Hannover, 26.09.2006

[2] Jacobi E, Leitner A, Kaluscha R. Die Messung der Teilhabestörung nach SGB IX: Eine Multicenterstudie zur Machbarkeit. PhysMedRehabKurort 2005: 15

[3] Deutsche Rentenversicherung: KTL – Klassifikation therapeutischer Leistungen; http://www.deutsche-rentenversicherung.de

[4] Deutsche Rentenversicherung. Leitlinie für die Rehabilitation bei chronischen Rückenschmerzen; http://www.deutsche-rentenversicherung.de